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Politik: „Anna Lindhs Tod verändert Schweden nicht“

Der Krimi-Autor Henning Mankell über den Mord an der Außenministerin, den Euro – und Tschernobyl

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie vom Mord an Anna Lindh erfahren haben?

Meine Gedanken waren wohl nicht viel anders als die der meisten anderen Schweden: Eine Tragödie, ich war traurig, gleichzeitig sehr ärgerlich und wütend. Wir wussten ja nicht, was passieren würde. Und natürlich taten mir ihre beiden Jungs unheimlich leid.

Wenige Tage später stimmten die Schweden in einer Volkabstimmung gegen den Euro …

Ja, und es war nur natürlich, dass die Gedanken auch noch in eine andere Richtung gingen: Man fragte sich, wie konnte das zu diesem Zeitpunkt passieren. Aber es hat sich gezeigt, dass der 11. September ein Schicksalstag ist: Am 11. September stirbt Anna Lindh, am 11. September fliegen Flugzeuge in Amerika in Hochhäuser, am 11. September wird Chiles Präsident Allende ermordet. Der 11. September bedeutet also: Be careful! Natürlich war da auch die Sorge, dass der Mord an Lindh einen politischen Hintergrund haben könnte. Aber es scheint ja so zu sein, dass der Täter psychisch krank ist.

Kurz nach dem Mord wurde in Schweden eine Untersuchung veröffentlicht. Danach werden mehr als die Hälfte aller Mord und Totschlagfälle von Menschen begangen, die wegen psychischer Krankheiten behandelt worden sind.

Alle haben gewusst, dass man in den vergangenen zehn Jahren psychisch kranke Menschen vernachlässigt hat. Ich hoffe sehr, dass diese Menschen nun die Behandlung bekommen, die sie brauchen. Hier hat die schwedische Sozialpolitik definitiv versagt.

Welche Konsequenzen hat dieser Mord für Schweden, der zweite Mord an einem wichtigen Politiker innerhalb von 20 Jahren?

Man muss vorsichtig mit zu großen Schlussfolgerungen sein. Als Olof Palme ermordet wurde, haben alle gesagt: Das verändert Schweden. Natürlich hat der Palme-Mord Schweden geschockt. Aber die Tat hat das Land nicht dramatisch verändert. Politische Prozesse gehen immer sehr langsam voran. Denken Sie an den Mord an Kennedy. Auch der hat die amerikanische Politik nicht verändert. Es war ein Schock, und dann ist man weitergegangen. So zynisch ist das politische Leben. Eine einzelne Person in einer Demokratie ist nicht so wichtig, wie eine einzelne Person in einer Diktatur. Ein Ereignis, dass für sich allein genommen wirklich dramatisch etwas verändert hat, war zum Beispiel der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl. Weite Gebiete wurden kontaminiert, Menschen starben daran, man konnte für lange Zeit nicht jagen oder Pilze sammeln.

Der Lindh-Mord bleibt ohne Konsequenzen?

Auch wenn sie eine überaus begabte Politikerin war und vermutlich die nächste Ministerpräsidentin geworden wäre: Ihr Tod verändert die schwedische Außenpolitik und die schwedische Sichtweise auf Schweden nicht dramatisch. Es wäre allerdings traumatisch geworden, wenn man den Täter nicht gefasst hätte, wenn wir einen zweiten Palme-Fall bekommen hätten. Aber danach sieht es jetzt nicht mehr aus.

Ist der Mord nicht ein Indiz dafür, dass die Schweden sich selbst falsch wahrnehmen?

Dieser Mord hätte an jedem Ort der Welt geschehen können. Zufällig ist er in Schweden passiert. Zu einem Selbstbild gehört sehr viel mehr. In gewisser Weise war es viel wichtiger, dass wir im Euro-Referendum mit Nej gestimmt haben. Dabei geht es viel eher um das schwedische Selbstbild; dass wir nämlich zu wenig wussten, um zuzustimmen: Das war ein Aufstand gegen die Macht, gegen die, die den Euro durchsetzen wollten.

In Deutschland wäre es undenkbar, dass sich bekannte Politiker wie Anna Lindh ohne Leibwächter in der Öffentlichkeit bewegen. Müssen die Schweden nicht einsehen, dass ihr Wunsch nach Offenheit und Freiheit in diesem Punkt nicht mehr funktioniert?

Das stimmt. Was definitiv passieren wird, ist, dass Personenschutz für alle Minister Pflicht werden wird. Niemand wird Leibwächter noch ablehnen können.

Was erwarten Sie in Zukunft von der schwedischen Außenpolitik?

Ich würde mir erstens wünschen, dass Schweden gemeinsam mit anderen Ländern die Entwicklungshilfe deutlich erhöht. Und zweitens, dass die Länder sich im Kampf gegen Aids viel mehr engagieren. Ich glaube, dass die westliche Welt nicht wirklich versteht, was da auf uns zukommt. Ich beschreibe auch in meinem neuen Buch meine Angst, dass zum Beispiel die Menschen in Deutschland und Schweden nicht wahrnehmen, dass es eine unglaubliche Katastrophe geben wird. Es ist nicht möglich von „denen“ und „uns“ zu reden. Auch wenn wir hier vielleicht nicht so betroffen sind, ist es unsere verdammte humanistische Pflicht zu helfen.

Das Gespräch führte Sven Lemkemeyer.

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