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Politik: Anpfiff zur Halbzeit

AUFBAU OST

Von Matthias Schlegel

Der Zeitrechnung von Manfred Stolpe zufolge ist „Halbzeit“ beim Aufbau Ost: Seit 15 Jahren fließt Geld, viel Geld, in die neuen Bundesländer, um die Region zwischen Sonneberg im Süden und Kap Arkona im Norden an das wirtschaftliche und soziale Niveau der Altbundesländer heranzuführen. Auf weitere 15 Jahre, also bis 2019, erstreckt sich der im nächsten Jahr in Kraft tretende so genannte „Solidarpakt II“.

Wie ein Fußballtrainer, der seiner Elf nach einer zwar achtbaren, aber zu schwachen Leistung in der Kabine Mut machen will, verordnet Stolpe seiner Mannschaft nun ein „Umsteuern“: Künftig gilt es, sich auf industrielle Schwerpunkte zu konzentrieren. „Cluster“ ist das Zauberwort, von deren gezielter Förderung wirtschaftliche Strahlkraft auf das Umfeld ausgehen soll. Was Stolpe sich noch nicht öffentlich zu sagen traut, was aber folgen muss, ist die nüchterne Bestandsaufnahme, welche Zukunftschancen die Städte und Regionen haben, wo Förderung lohnt – und wo nicht.

Der Aufbau Ost ist an einer Akzeptanzgrenze angelangt. Das liegt weniger daran, dass in ihn so viel hineinfließt. Es liegt eher daran, dass so wenig herauskommt. Die Aufgabe, die Lebensverhältnisse im Osten an die des Westens anzugleichen, wurde anfangs als nationale Herausforderung bereitwillig angenommen. Im Taumel der Wiedervereinigung von den Mühen des Zusammenwachsens zu sprechen, war nicht populär, wie SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine schmerzhaft erfahren musste. Aber wahrscheinlich hätte die Bereitschaft bei den Westdeutschen gelitten, wenn ihnen damals jemand gesagt hätte, dass dafür innerhalb von fünfzehn Jahren mehr als tausend Milliarden Euro in die neuen Länder fließen müssen. Und es hätte sich Befremden breit gemacht, wenn ein prophetischer Blick auf die Bilanz fünfzehn Jahre später möglich gewesen wäre: Ostdeutschland erwirtschaftet im Jahr 2003 mit einem Fünftel der Bevölkerung und einem Drittel der Fläche nur ein Zehntel des gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukts und nur ein Zwanzigstel des Exports. Jeder dritte Euro, der in Ostdeutschland ausgegeben wird, ist dort nicht erwirtschaftet, sondern durch Transfers beigesteuert worden. Nur für 70 Prozent der Arbeitsfähigen gibt es in den neuen Ländern auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle. Seit 1997 wächst die ostdeutsche Wirtschaft wieder langsamer als die westdeutsche.

Klaus von Dohnanyi, der einen Beraterkreis der Bundesregierung leitet, hat in der vergangenen Woche in Berlin ein alarmierendes Fazit gezogen: Wenn nicht gegengesteuert wird, wird in 15 Jahren der Transferbedarf im Osten noch größer sein als heute. Und: Wenn weiterhin Transfers in dieser Höhe notwendig sind, blutet Westdeutschland aus.

Es würde in die Irre führen, die Ursachen für den ernüchternden Befund allein in den Weichenstellungen der frühen 90er Jahre zu suchen. Unter den konkreten historischen Umständen gab es keine greifbare politische Alternative zu dem Kurs, den ungleich höheren wirtschaftlichen Ertrag des Westens solidarisch zu teilen und im Osten jene Mindeststandards herzustellen, die der Intention des Grundgesetzes Rechnung tragen. Dass aber Subventionen und Fördergelder die Empfänger zugleich mit dem Bazillus der Bequemlichkeit und des Anspruchsdenkens infizieren, dass sie ungewollte Mitnahmeeffekte auslösen, das wurde angesichts der Dimension der Probleme im Osten weithin tabuisiert. Und indem die Politik sich hinter den Fördersummen versteckte und der Wohlstandswirkung der Transfers vertraute, vernachlässigte sie ihren Gestaltungsauftrag.

Beim Aufbau Ost umzuschwenken, ist überfällig. Dabei wird kaum ein Euro eingespart werden können. Aber es muss aus jedem eingesetzten Euro mehr herausgeholt werden. Das bedeutet für den Osten, Prioritäten zu setzen, Unterschiede zu akzeptieren. Es bedeutet für den Westen, nicht davor zurückzuschrecken, erstarrtes Regelwerk aufzubrechen. Wenn Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt vorschlägt, die Starken zu stärken und mit Sonderwirtschaftszonen zu experimentieren, kann man das als Manchesterkapitalismus verunglimpfen. Aber man kann es auch als Chance begreifen: für den Osten, für den Westen, für Deutschland.

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