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Sicherheitskräfte auf dem Atatürk-Flughafen von Istanbul.

© AFP

Anschlag auf Flughafen in Istanbul: Der Druck auf Erdogan wächst

Die türkische Regierung hat noch keine Strategie gegen die Terrorgefahr. Die Kritik wird lauter. Beim Anschlag am Atatürk-Flughafen machte sich ein Täter durch einen Mantel verdächtig - das verhinderte noch Schlimmeres.

Es ist ein warmer Sommerabend in Istanbul, am Atatürk-Flughafen kommen um diese Tageszeit viele Maschinen aus dem Ausland an, die in die Türkei reisen. Die Passagiere werden von Freunden oder Verwandten abgeholt, die über eine Zugangsschleuse in die Ankunftshalle des internationalen Teils des Flughafens kommen. Doch irgendetwas stimmt nicht, bemerken einige Polizisten. Die Beamten, so wird es die Zeitung „Hürriyet“ später melden, werden misstrauisch, als sie unter den Menschen an der Schleuse einen Mann in einem Mantel sehen – bei Sommertemperaturen von mehr als 30 Grad eine sehr ungewöhnliche Kleidung. Offenbar soll der Mantel einen Sprengstoffgürtel oder ein Kalaschnikow-Schnellfeuergewehr verstecken.

Als die Beamten den Mann und seine bis zu sechs Begleiter stellen, eröffnen sie das Feuer, kurz darauf sprengt sich einer der Täter in die Luft. Für viele Menschen, die am Röntgengerät der Sicherheitsschleuse warten, gibt es kein Entrinnen. Ein zweiter Selbstmordattentäter läuft durch das Chaos, um in die Ankunftshalle zu gelangen, geht nach einem Schuss der Polizei zu Boden und zündet ebenfalls eine Bombe. Ein weiterer Angreifer eröffnet vor der Ankunftshalle das Feuer auf angekommene Passagiere an einem Taxistand.

Hätte der Mantel die Sicherheitskräfte nicht stutzig gemacht, und hätten sie nicht in einem für die Täter überraschenden Moment zugegriffen, dann hätten die Täter in aller Ruhe den Angriffsort und den Zeitpunkt des Angriffs bestimmen können. Dann wären die Sicherheitskräfte überrascht worden und es hätte ein viel schlimmeres Blutbad geben können.

Die Bilder gleichen denen von Brüssel

Dutzende Reisende, Taxifahrer und Polizisten sterben. Die Leichen werden am Mittwoch den Angehörigen zur Bestattung übergeben. Unter den Schwerverletzten ist der 47-jährige Engin Purtul, der zum Flughafen gekommen war, um seine aus Deutschland ankommende Nichte abzuholen.

Die Wucht der Explosionen reißt Teile der Deckenverkleidung des Terminals ab, Menschen rennen schreiend um ihr Leben. Die Behörden sperren die Zufahrtsstraßen und schicken Dutzende Rettungswagen zum Tatort, während schwer bewaffnete Polizisten nach möglichen weiteren Angreifern suchen. Die Bilder gleichen denen vom Anschlag in Brüssel vom März, der ebenfalls auf das Konto von IS-Sympathisanten ging.

Eine türkische IS-Zelle mit Beteiligung einiger Täter aus Zentralasien habe den Istanbuler Airport angegriffen, sagt der Terrorexperte Metin Gürcan. Nach seinen Informationen waren insgesamt sieben Männer an dem Anschlag beteiligt. Drei seien tot, einer sei festgenommen, drei seien noch auf der Flucht. Auch „Hürriyet“ meldet sieben Täter, doch die Behörden schweigen dazu.

Wie in Brüssel wird auch in Istanbul der Flugbetrieb erst einmal eingestellt, doch nur wenige Stunden später starten und landen die ersten Maschinen wieder, wie der nach Istanbul geeilte Ministerpräsident Binali Yildirim noch in der Nacht mitteilt: Die Türkei will zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lässt.

Yildirim lässt die geschockte Nation auch wissen, dass es keine Sicherheitsmängel am Flughafen gegeben habe – eine recht merkwürdige Aussage, wie Kritiker finden. Laut Medienberichten ergab die Auswertung von Sicherheitskameras, dass die Täter den Anschlagsort am Dienstagmorgen inspiziert hatten und am Abend mit einem Taxi zum Flughafen zurückkehrten. Obwohl alle Fahrzeuge am Istanbuler Airport wie an anderen Flughäfen der Türkei eine Polizeikontrolle passieren müssen, bevor sie an die Terminals gelangen können, bleiben die Waffen des Terrorteams unentdeckt.

Bei 36 Todesopfern ein Versagen der Sicherheitsbehörden auszuschließen, ist schon ein starkes Stück, findet der Istanbuler Politologe Behlül Özkan. Auf Twitter kommentiert er, diese Haltung sei ein Zeichen eines autokratischen Regimes, das die Mission der Sicherheitsbehörden im Schutz der Regierung sehe – nicht im Schutz der Gesellschaft.

Kritiker: Erdogan geht nicht entschlossen gegen den IS vor

Regierungsgegner werfen der Führung um Präsident Recep Tayyip Erdogan schon lange vor, angesichts der Bedrohung durch den IS nicht entschlossen genug zu handeln. So seien Terrorexperten der Polizei im Zuge der Säuberungswellen bei den Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren versetzt oder gefeuert worden; Erdogan hatte die Versetzungswelle angeordnet, um mutmaßliche Anhänger seines Widersachers Fethullah Gülen aus dem Staatsapparat zu entfernen.

Der Anschlag vom Dienstag war die dritte Bluttat des IS in Istanbul in diesem Jahr. Im Januar tötete ein Extremist in der historischen Altstadt zwölf deutsche Touristen, im März sprengte sich ein weiterer IS-Anhänger auf der Einkaufsstraße Istiklal Caddesi in die Luft und tötete drei Israelis und einen Iraner. Auch der Angriff vom Dienstag galt Ausländern: Der Ankunftsbereich des Inlands-Terminals blieb unbehelligt.

Ein Rezept gegen die Gefahr besitzt Ankara bisher nicht, ein Gefühl der Verunsicherung breitet sich aus. Nicht nur der IS mordet, sondern auch extremistische Kurden von der Terrorgruppe PKK. Fast 300 Menschen seien in der Türkei binnen eines Jahres bei Terroranschlägen ums Leben gekommen, rechnet die Online-Plattform T24 ihren Lesern vor. Die für die Wirtschaft sehr wichtige Fremdenverkehrsbranche erlebt wegen der Terrorwelle die schlechteste Saison seit Jahrzehnten. Im Nahen Osten steht die Türkei nach Jahren des überaus selbstbewussten Auftretens als selbst ernannte Führungsmacht isoliert da.

Schon vor dem Anschlag vom Dienstag hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass Erdogan unter diesem Druck der Entwicklungen gegensteuern will. Die am Wochenende besiegelte Wiederannäherung an Israel und neue Bemühungen um ein Ende der Krise in den Beziehungen zu Russland sollen der türkischen Diplomatie wieder mehr Spielraum und der Tourismusbranche wieder mehr Besucher verschaffen.

Zugleich wurde in den vergangenen Tagen der Ruf nach einer Neuausrichtung der türkischen Syrien-Politik laut, die bisher kompromisslos auf einen Sturz von Präsident Baschar al-Assad ausgerichtet ist und im Dienste dieses Zieles den Erfolg diverser – auch islamistischer – Rebellengruppen in Syrien anstrebt. Ob der Anschlag vom Dienstag eine solche Wende beschleunigen kann, blieb aber zunächst unklar.

Verfolgen Sie hier im Live-Blog weitere aktuelle Informationen zu dem Anschlag.

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