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"Und Stille gibt es, da die Erde krachte, kein Wort, das traf, man spricht nur aus dem Schlaf" (Karl Kraus)

© AFP

Anschlag in Nizza: Für manche Ereignisse gibt es keine Erklärung

Eltern müssen ihren Kindern die Welt begreifbar machen. Erst recht, wenn diese Welt aus den Fugen geraten ist. Doch was, wenn sie sich das Geschehene selbst nicht erklären können? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Als Kind habe er viele Dinge nicht verstanden und dann seinen Vater gefragt. Der habe gelächelt, ihn an die Hand genommen und gesagt: Eines Tages wirst du das alles verstehen. Heute ist das Kind von damals erwachsen – und wütend. Denn es hat gelernt: Eines Tages kommt nie. „Someday Never Comes“ heißt das Lied, geschrieben wurde es von John Fogerty, dem Sänger und Leadgitarristen der Rockband „Creedence Clearwater Revival“. Eines Tages kommt nie. Die Unerklärbarkeit der Welt muss ausgehalten werden.

An dieser Zumutung zerbrechen Menschen, andere flüchten sich in leicht verfügbare Sinnkonstruktionen. Kaum etwas ist schwerer zu ertragen als ein Schicksal ohne Grund, eine Trauer ohne Rationalisierung. Wie soll eine Mutter oder ein Vater seinem Kind das Verbrechen von Nizza erklären? Eltern sind dazu da, die Welt begreifbar zu machen. Erst recht, wenn diese Welt aus den Fugen zu sein scheint. Und Kinder denken nun mal in Verknüpfungen. Das fängt beim Aberglauben an: Wenn der Vogel, der am Himmel kreist, auf dem Dach des Hauses links vom Schornstein landet, wird alles gut. So fantasieren nicht nur kleine Menschen.

Doch die Tat des Lastwagen-Massenmörders von Nizza entzieht sich jedem kindgerechten Narrativ. Sie übersteigt sogar das Fassungsvermögen der meisten Erwachsenen. Als Eltern stecken sie daher in einem Dilemma. Sie können ihren Kindern die Angst nur nehmen, wenn sie ihnen sachlich und ruhig das Was und Warum von Nizza erzählen. Aber weil sie oft selbst nicht verstehen, wie so etwas möglich ist, sind sie zum So-tun-als-ob verdammt. Ohne innere Überzeugungskraft müssen sie in Sätzen reden, von denen sie allenfalls hoffen, dass sie wahr sind.

Die Warner wollen zu Recht gewarnt haben

Das Entsetzen über die Bilder aus Nizza verstärkt das Gefühl, dass immer mehr Ereignisse die Fähigkeit zum Begreifbarmachen der Welt überstrapazieren. Die Todesschüsse von Dallas auf weiße Polizisten, das Gemetzel in einer Schwulendisco in Orlando, die Terroranschläge von Paris und Brüssel, die Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft angesichts des Kriegs in Syrien, die mehr als tausend Angriffe auf Flüchtlingsheime in Deutschland allein im vergangenen Jahr – warum? Warum das alles? In den Augen des Kindes liegt die Erwartung einer schlüssigen Antwort. Eines Tages wirst du das verstehen – das geht nicht. Denn eines Tages kommt nie.

Kinder sollen neugierig, hilfsbereit und offen sein. Die Offenheit gegenüber der Welt aber ist wie deren Verständnis von einem Verbrechen, wie es in Nizza begangen wurde, bedroht. Eine Sprache, in der sich diese doppelte Bedrohung überwinden lässt, gibt es noch nicht. Aber es muss sie geben, weil sonst die plakativen Erklärungen den Kommunikationsraum beherrschen: die Religion, der Islam, die Einwanderung, der Terrorismus, das Böse, die Apokalypse. So schreit es bereits Minuten danach aus Tausenden von Kehlen. Die Warner wollen zu Recht gewarnt haben, die Rechthaber wieder recht haben, die Experten ihrem Ruf gerecht werden.

Die anderen dagegen, die leise Verzweifelten, die ringen mit den Worten, widersetzen sich dem Geschrei, sind allein in ihrer Ratlosigkeit. Einsam allerdings sind sie nicht. Etwas gibt ihnen Kraft. Vielleicht ist es die Erfahrung, die Unerklärbarkeit der Welt aushalten zu können. Wodurch auch immer.

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