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Der Ort des Anschlags. Die Tat von Anis Amri kostete zwölf Menschen das Leben.

© AFP

Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz: Der Amri-Bericht ist nicht nur ein Protokoll der Pannen

Vom Wert des Amtsdeutschs und der Rechtstreue: Jenseits aller gerechtfertigten Kritik ist der Bericht des Justizministeriums zum Fall Anis Amri Beleg einer hochzivilisierten Verwaltung.

Von Caroline Fetscher

Auf den jungen Mann, der im Dezember in Berlin ein Blutbad anrichtete, waren über mehrere Jahre viele Augen gerichtet. Er kam als Asylbewerber aus dem Maghreb in die Europäische Union, machte auf sich aufmerksam als Kleinkrimineller, wurde untergebracht, verpflegt, inhaftiert, auf freien Fuß gesetzt. Bald wurde er beobachtet, bald nicht, er sollte gehen, konnte bleiben, sollte wieder gehen, schlug sich durch – und schlug schließlich zu.

Gleich Dutzende Behörden im Rechtsstaat versuchen, sich ein Bild von solchen jungen Leuten zu verschaffen. Rund 550 „Gefährder“ haben sie auf dem Radar. Wie komplex und aufwendig das staatliche Augenmerk ist, zeigt der Bericht des Justizministeriums „Behördenhandeln um die Person des Attentäters vom Breitscheidplatz Anis Amri“, ein Kurzprotokoll von 19 Seiten, dessen Langversion viele hundert haben dürfte.

Mal war Amri in einer Moschee zu sichten, mal nicht. Mal interessierte er sich mehr für Beten und Fasten, dann eher für Drogen, dann für Waffen und Sprengstoff. Beobachtet wurden Wohnortwechsel, Drohgebärden, wüste Wortwechsel mit Amtsinhabern: „Es entstand der Eindruck eines junges Mannes“, hält der Bericht fest, „der unstet, sprunghaft und äußerst wenig gefestigt erscheint.“ Was tun mit solchen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich am Rand eines Abgrunds namens Fundamentalismus herumtreiben?

Abwägend mit Verdächtigen verfahren

Parallel zu den Gewaltfantasien dieser wachsenden Gruppe wachsen in der Bevölkerung Gegengewaltfantasien: Nicht lange fackeln, alle mit Fußfesseln ausstatten, präventiv wegsperren oder rauswerfen, sie einfach irgendwie loswerden. Potentaten wie Putin oder Erdogan machen vor, wie man ganze Haftanstalten, kleine Gulags, auch mit jenen füllt, die nur verdächtige Worte äußern.

Im demokratischen Rechtsstaat jedoch halten dessen Akteure sich an Recht und Gesetz. Da geht das, will man ihn erhalten, nun mal nicht. Deshalb ist der Amri-Bericht, auch als „Protokoll der Pannen“ bezeichnet, jenseits aller gerechtfertigten Kritik ein beeindruckendes Dokument der Zeitgeschichte. Historische Forschung wird eines Tages an solchen Protokollen ablesen, dass der Rechtsstaat westlicher Prägung nach den Diktaturen des 20. Jahrhunderts äußerst gewissenhaft, normenkonform und abwägend mit Verdächtigen verfahren ist. Schon dieses kleine Dokumentfragment birgt den Beleg einer hochzivilisierten Verwaltung.

Was sich als Paragrafendschungel präsentiert, wartet auf mit Bürokratenvokabular, mit Amtsprosa, die von A bis Z nervös machen kann: Abschiebeprozess, Aktenlage, Aliaspersonalie, Anfangsverdacht, Aufenthaltsermittlung, Aufnahmeeinrichtung, Aufenthaltsgestattung, Bearbeitungszuständigkeit, Behördenzeugnis, Beobachtungsvorgang, Erkenntnisanfrage, Erkenntnisverdichtung, Ermittlungsverfahren, Erstfeststellung, Fahndungsausschreibung, Fahndungshinweis, Gefährdungsbewertung, Gefährdungslage, Gefährdungskomponente, Gesamtvermerk, Glaubwürdigkeitsbeurteilung, Haftentlassung, Heimreisedokumente, Informationsaustausch, Kontaktperson einer Kontaktperson, Lebensmittelpunkt, Lichtbilder, Mehrfachidentitäten, Passbeschaffungsmaßnahmen, Personengeflecht, Personenidentität, präventivpolizeiliche Observation, priorisierte asylverfahrensrechtliche Bearbeitung, Sicherheitsabfrage, Unterbringungseinrichtung, Ursprungshinweis, Wohnsitznahme, Zurverfügungstellung, Zuweisungsentscheidung.

Hier kommt eine demokratische Grundhaltung durch

„Erkenntnisverdichtung“! Wie vertrackt kompliziert das klingt, wie umständlich! Doch auch die Begriffe dieses Amtsdeutschs dienen dem Sichern der Kontinuität von Rechtsnormen, der demokratischen Grundhaltung mit humanitärer Intention. Jedes Wort ist gefasst vom Rahmen des Rechts. Abgebildet in solchen Dokumenten des Überprüfens, Einschätzens und Beobachtens ist die enorme Kulturleistung, das Grundprinzip der Rechtstreue zu achten – um genau das zu erhalten, was die Gegner der Demokratie attackieren.

Keine Frage, im Binnensystem solcher Verwaltungen kann sich eine interne Zweitlogik entwickeln, eine von Kausalitäten abgekoppelte Dynamik, die Fehler und blinde Flecken möglich macht. Dann fehlt es an Beweglichkeit, Kooperation, Solidarität, am Austausch von Daten, Fakten, Ergebnissen. Überall in der Demokratie, das gehört zu ihrer Substanz, ist und bleibt ununterbrochene Reform nötig. Keine Demokratie ist je ganz fertig, jemals perfekt. Demokratie ist vielmehr der offene Prozess einer offenen Gesellschaft. Den politisch zu wollen, das unterscheidet Demokraten von Fundamentalisten.

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