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Streng abgeschirmt gedenkt der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (2. v. r.) der Opfer des Anschlags in Ankara. Prominente Regierungspolitiker sind derzeit in der Öffentlichkeit nicht gern gesehen. Oft werden sie wüst beschimpft.

© Hakan Goktepe/AFP

Anschlag von Ankara: Munition für den Wahlkampf in der Türkei

Vor der Abstimmung über ein neues türkisches Parlament versuchen die Parteien, das Attentat für ihre Zwecke zu nutzen.

Der Anschlag von Ankara wird zum beherrschenden Thema im türkischen Wahlkampf. Am 1. November wählen die Türken ein neues Parlament. Die Opposition wirft der AKP-Regierung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu völliges Versagen vor, weil sie den von mutmaßlichen Anhängern des „Islamischen Staates“ (IS) verübten Anschlag mit fast 100 Toten nicht verhindern konnte. Der Premier wehrt sich und spricht von verantwortungsloser Stimmungsmache. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass dem Land bis zum Wahltag eine harte Auseinandersetzung bevorsteht. Einen Vorgeschmack gab es am Dienstag in Istanbul, wo die Polizei mit Gewalt gegen regierungskritische Demonstranten vorging, die sich zu einem Gedenkmarsch für die Anschlagsopfer versammeln wollten.

Die Demonstration in Istanbul war von den Behörden verboten worden – die offizielle Begründung verwies unter anderem darauf, dass der Protestmarsch außerhalb der dafür vorgesehenen Routen stattfinden sollte. Polizeibeamte nahmen mit Gewalt mehrere Demonstranten fest, die per Fähre vom asiatischen Teil Istanbuls über den Bosporus zur Kundgebung fahren wollten. Während die Polizisten gegen die Teilnehmer vorgingen, legte Davutoglu am Ort des Anschlags in Ankara zur Erinnerung rote Nelken nieder. „Der Opfer gedenken dürfen wohl nur diese selbst“, sagte Selahattin Demirtas, Chef der Kurdenpartei HDP.

Davutoglu wurde bei seinem Besuch streng abgeschirmt. Denn prominente Regierungspolitiker haben es in der Öffentlichkeit derzeit nicht immer einfach. Parlamentspräsident Ismet Yilmaz wurde bei einer Beisetzung von Anschlagsopfern von der Menge als „Faschist“ beschimpft. Davutoglus AKP hat bis Freitag alle Wahlkampfveranstaltungen abgesagt und will danach ihre Treffen als „Kundgebungen gegen den Terror“ deklarieren.

Die Oppositionspartei HDP verzichtet aus Sicherheitsgründen auf Veranstaltungen

Demirtas’ HDP, die bei dem Selbstmordanschlag von Ankara mehrere Dutzend Anhänger verlor, verzichtet aus Sicherheitsgründen bis auf Weiteres ganz auf Massenveranstaltungen und nutzt Beileidsbesuche bei Familien der Opfer, um ihre Botschaften in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Demirtas wirft der Regierung vor, in das Attentat verwickelt gewesen zu sein, weil sie den IS gewähren lasse. „Aber wir werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen“, sagte er – und verband dies mit einem Aufruf an die Wähler: „Der 1. November ist der erste Schritt dazu.“

Mit Sätzen wie diesem hetze Demirtas die Leute auf, sagte Davutoglu. Außerdem schweige der HDP-Chef zu Gewalttaten der kurdischen PKK-Rebellen. Doch unfreiwillig lieferte der Premier den Regierungsgegnern weitere Munition, indem er erklärte, die Behörden wüssten zwar von weiteren potenziellen Selbstmordattentätern, könne diese aber nicht festnehmen, bevor sie in Aktion träten.

Die AKP von Ministerpräsident Davutoglu und Regierungschef Erdoğan hofft auf eine absolute Mehrheit

Laut den meisten Umfragen kann die AKP kaum darauf hoffen, bei der Novemberwahl die absolute Mehrheit der Parlamentssitze zurückzugewinnen, die sie bei der Abstimmung im Juni verloren hatte. Die Regierung, die sich bei der Wahl eigentlich als Garant der inneren Sicherheit präsentieren wollte, muss plötzlich Fragen nach Ermittlungspannen und einer Schwäche der Geheimdienste beantworten.

Gleichzeitig wird die Syrienpolitik der AKP, die seit Jahren die Rebellen im Nachbarland unterstützt, immer heftiger kritisiert. Die Partei habe die Türkei in den „Sumpf des Nahen Ostens“ geführt und sei schuld daran, dass der Terror ins Land getragen werde, sagt der Oppositionspolitiker Barfis Yarkadas. Demirtas geht noch einen Schritt weiter. „Bis heute unterstützen sie die IS-Barbaren, ermutigen sie, geben ihnen Geld und Waffen“, sagte der Kurdenchef über Premier Davutoglu und andere Spitzenpolitiker.

Dennoch muss der Anschlag der AKP-Regierung an der Urne nicht zwangsläufig schaden, glaubt der Meinungsforscher Murat Gezici. Bei schweren Gewalttaten in der Vergangenheit seien bis zu 40 Prozent der Wähler überzeugt gewesen, dass ausländische Kräfte hinter dem Unheil steckten, sagte Gezici. Wenn die AKP dieses Gefühl anspreche, könne sie trotz der Katastrophe von Ankara am 1. November mit leichten Zugewinnen rechnen. Erste Ansätze für eine solche Taktik sind erkennbar: Die regierungsnahe Presse nannte die syrische Regierung von Präsident Baschar al Assad, aber auch die Geheimdienste Deutschlands, Großbritanniens und der USA als mögliche Drahtzieher.

Zudem hat die Regierung den Vorteil, dass ein Großteil der Medien auf ihrer Seite steht und der Zugang zu kritischen Informationsquellen für Normalverbraucher immer schwieriger wird. So nahm Digitürk, der größte Anbieter von Satellitenfernsehen im Land, jetzt sieben zur Opposition zählende Fernsehsender aus seinem Programm.

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