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Gedenken in Nizza an die Opfer des Anschlags.

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Anschlag von Nizza und die Folgen: Wir müssen der Macht der Furcht widerstehen

Auch bei uns nimmt nach dem Anschlag von Nizza das Gefühl der Bedrohtheit zu. Doch es gibt keinen Grund für Hysterie. Notwendig sind Einsicht in das Unabwendbare und mehr Gelassenheit. Ein Essay.

Ein Essay von Frank Jansen

Ein Strand. Liegestühle, Sonnenschirme, das glitzernde Meer. Der Urlauber entspannt sich, er liest, er döst, er plaudert, er holt sich einen Drink. Er genießt die Wärme, er fühlt sich wohl. Er ist bei sich. Was unangenehm sein könnte, ist weit weg. Der Urlauber hat jetzt keine Sorgen, keine Unruhe, keinen Stress. Am Abend, das hat er sich vorgenommen, geht er zur Party im Beach Club. Die Vorfreude beginnt schon am Mittag. Die Knallerei, die gerade etwas näher kommt, wird wohl ein Feuerwerk sein.

Am Vormittag des 26. Juni 2015 schießt der 24-jährige Seifeddine Rezgui an einem Strand zehn Kilometer nördlich der tunesischen Stadt Sousse um sich und wirft Handgranaten. Der Salafist tötet 38 Urlauber, darunter zwei Deutsche. Tunesien, schon mehrfach von Anschlägen getroffen, ist spätestens seit dem Massaker am Badestrand für viele Europäer tabu. Man könnte auch sagen: „Tunesien“ ist ein Synonym für Angst (zumal nun auch noch der Attentäter in Nizza tunesischer Herkunft war). Seifeddine Rezgui erreichte offenbar sein Ziel. Die „ungläubigen“ Touristen bleiben seitdem weg, Tunesiens Wirtschaft leidet, die Arbeitslosigkeit steigt und mit ihr die Zahl der frustrierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Salafisten können sich freuen. Sie finden noch mehr junge Rekruten. Wie die Geschichte weitergeht, erfordert nicht viel Fantasie.

Angst vor Terrorismus ist ein modernes Lebensgefühl. Wir leben in einer Epoche gesteigerter Furcht, eingebettet in das Gefühl einer nie dagewesenen, globalen Unübersichtlichkeit, obwohl die schlimmsten Angstperioden der deutschen Geschichte, die zwölf Jahre der völkermordenden NS-Diktatur und die 40 Jahre mauermiefiges SED-Stasi-Regime, schon lange vorbei sind. 73 Prozent der Deutschen haben aktuell Angst vor Terrorismus. Das ergab kürzlich eine Umfrage der Versicherung R+V. Im Vergleich zum Vorjahr hat die Terrorangst der Deutschen sogar um 21 Prozent zugenommen. Die Anschläge in Tunesien, der Türkei, in Frankreich, Belgien, Dänemark wirken sich aus. Ebenso wie die grauenhaften Bilder aus Syrien, Irak, Jemen und weiteren Ländern, die dem islamistischen Furor noch einmal in einer anderen Dimension ausgesetzt sind als Frankreich und Tunesien. Und jetzt, nach dem verheerenden Anschlag in Nizza, dürfte sogar die 100-Prozent-Angstmarke in Reichweite sein. Angst essen Seele auf. Bisweilen allerdings auch den Verstand.

Angst ist wählerisch, auch verlogen, mit einem Schuss Rassismus

Das zeigt sich bei der Auswahl von Urlaubszielen. Es ist nachvollziehbar, dass viele Deutsche Tunesien und die Türkei mal lieber ein Jahr meiden. Im Fall der Türkei kommt nun zu den Anschlägen auch noch der Putschversuch von diesem Wochenende hinzu. Aber zurück zu Frankreich. Wie viele Erholungsbedürftige aus der Bundesrepublik werden ihren Urlaub in der Provence, an der Côte d’Azur, in Nizza stornieren oder abbrechen? Und wer verzichtet jetzt auf den Wochenendausflug nach Paris? Schulklassen werden vielleicht vorsichtiger sein, womöglich ist dann eher Amsterdam das Ziel. Aber ein massiver, gar weitflächig existenzgefährdender Einbruch der französischen Tourismusindustrie ist schwer vorstellbar. Obwohl Frankreich genauso wie Tunesien ein herausragendes Angriffsziel der Terrormiliz IS zu sein scheint.

Angst ist wählerisch. Auch verlogen. Mit einem Schuss Rassismus. Ein islamisches, arabisches Land wie Tunesien erscheint offenbar per se gefährlicher als das abendländische, christlich geprägte Frankreich.

Die in der Angst lauernden Ressentiments sind natürlich kein rein deutsches Phänomen. Vermutlich werden auch viele Franzosen inzwischen überlegen, lieber in den Süden ihres Landes zu fahren, auch nach Nizza, als nach Tunesien oder in die Türkei. Es steht auch keinem Journalisten oder Politiker zu, Franzosen oder Deutsche moralisch zu drängen, Urlaubsziele wie Frankreich, Tunesien, Türkei bitte gleichwertig zu prüfen. Es gibt glücklicherweise in Demokratien keine Vorschrift für Angst. Autoritäre Regime befehlen Angst vor Feindbildern, um von der eigenen, angstmachenden Politik abzulenken. Leider können viele Russen, Chinesen, Nordkoreaner dieser ideologisch aufgeheizten Angstmacherei nicht entkommen. Das könnte ein Grund sein, sich im Westen Sorgen zu machen. Diese müssen aber nicht gleich in Angst oder gar Angststörung ausarten. Angst ist oft richtig und falsch zugleich. Angst ist notwendig, um Gefahren rechtzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Angst wird gefährlich, wenn sie länger oder sogar dauerhaft von einer rationalen, abwägenden Betrachtung entkoppelt ist. Dann mutiert Angst zu Panik, zu Hass, zu Aggressivität. Die unfassbar vielen Brandanschläge in Deutschland auf Unterkünfte von Flüchtlingen bebildern das Phänomen entgrenzter Angst auf das Schaurigste. Da ist „German Angst“ gleich German Anschlag.

Die Angst vor der Überforderung der Politiker wirkt übertrieben

Davor kann man durchaus Angst haben. So überrascht es nicht, dass in der Umfrage der Versicherung die Angst vor politischem Extremismus auf Platz 2 der deutschen Ängste gelandet ist. Auch hier gab es eine beträchtliche Steigerung, von 49 auf 68 Prozent. Die Angst vor dem Hass von Neonazis, Pegida-Anhängern und auch linken Autonomen ist beachtlich. Und zu den Angstzahlen bei Terror und Extremismus passt, dass in der Umfrage die Angst der Deutschen vor einer Überforderung der Politiker um 17 auf 65 Prozent gewachsen ist. Spätestens jetzt wird die Angst der Deutschen ein Ärgernis.

Es mag ja stimmen, dass eine ganze Reihe von Politikern nicht den Eindruck erweckt, sonderlich klug auf akute Probleme zu reagieren. Oder so klug zu agieren, dass Probleme gar nicht erst entstehen. Das Endlosdrama um den neuen Berliner Flughafen ist da ein Paradebeispiel, das beachtliche Teile der politischen Klasse der Hauptstadt blamiert. Aber politische Pannen, auch solche mit Langzeitwirkung, gab es schon früher, als angeblich alles noch besser war. Die politische Klasse der alten Bundesrepublik leistete sich saftige Spendenskandale, und die Politiker der DDR waren mit ihrer ideologischen Schnappatmung sowieso untauglich für effiziente Politik. Abgesehen von der manisch perfektionierten Überwachung der Bevölkerung. Stehen im Vergleich dazu „unsere“ Politiker heute schlechter da? In einem Land übrigens mit einer beneidenswert niedrigen Arbeitslosenquote? Mit einem Bruttoinlandsprodukt, das seit Jahren kontinuierlich steigt?

Die anschwellende Angst vor der Überforderung der Politiker wirkt übertrieben. Tatsächlich ist es doch so: die Kabinette und Parlamente dieser Republik müssen sich genauso wie der Normalbürger in einer komplexeren, hochtourigen Welt zurechtfinden. Das heißt, dass permanent in Bund und Ländern Antworten auf die negativen wie aber auch positiven Herausforderungen durch die höchst anstrengende Globalisierung zu geben sind. Als da wären eine hyperrasante Kommunikationsbeschleunigung durch das Internet. Eine rabiate Konkurrenz asiatischer Billigfirmen in vielen Branchen. Die Mammutaufgabe, hunderttausende Flüchtlinge so schnell wie möglich zu integrieren. Und nicht zuletzt die schon beschriebene, stark angstfördernde Gefährdung der inneren Sicherheit durch auswärtigen und mit ihm verbundenen heimischen Dschihadistenterror. Hinzu kommt die Schwerkriminalität georgischer Banden, die in Serie Wohnung aufbrechen. Bedrohlich sind zudem Cyberattacken und die Spionage ausländischer Geheimdienste, vornehmlich aus Russland, China, Iran. Welcher Angstbürger möchte da mit „den Politikern“ tauschen?

Rechtspopulisten wissen die Angst auszunutzen

Natürlich werden einige „hier!“ schreien. Vor allem Rechtspopulisten glauben, sie seien den dreist als „Altparteien“ geschmähten Demokraten überlegen. Mehr noch: AfD, Pegida und Konsorten schüren die Angst, Deutschland werde von den „Systempolitikern“ überfremdet, ausgeplündert, abgeschafft. Dass das nicht stimmt, werden die intelligenteren Rechten schon ahnen, aber: Angst ist ein Machtfaktor. Mit Angst fängt man Stimmen. Was die AfD in den Landtagen dann treibt, ist jedoch vor allem geeignet, Angst vor einem Missbrauch der parlamentarischen Demokratie zu empfinden. Die Namen Höcke, Gedeon und Gauland mögen da als Belege genügen.

Trotzdem muss auch die rechte Angstmacherei ernst genommen werden. Denn sie ist Teil der breiten Angst, die in den unerfreulichen Umfrageergebnissen der Versicherung R+V zum Ausdruck kommt. Die beachtliche Zunahme der Ängste vor Terror, Extremismus sowie einer Überforderung der Politiker dürfte zum Teil auch auf die Kampagnen der Rechten zurückzuführen sein. Deutlicher noch wird dieser Befund bei weiteren Details der Umfrage. 67 Prozent der Befragten, 18 Prozent mehr als 2015, haben Angst vor „Spannungen durch Zuzug von Ausländern“. Und 66 Prozent, ein Plus von 16 Prozent, äußern Angst vor „Überforderung von Deutschen/Behörden durch Flüchtlinge“.

Solche Angst hat das Potenzial, zu ängstigen. Denn sie kündet von einem Verlust an Vertrauen nicht nur in „Politiker“, sondern offenbar auch in die Funktionstüchtigkeit der bundesdeutschen Demokratie an sich. Das ist gefährlich. Und spätestens jetzt müsste klar werden, dass der Angstmacht in diesem Land widersprochen werden muss. Deutlich, aber nicht besserwisserisch und arrogant, doch konsequent. Denn soviel Angst hat Deutschland nicht verdient.

Die Angst vor dem Überwachungsstaat ist unberechtigt

Das gilt auch für die eher akademisch wirkenden Ängste, die in Teilen der Medien und der Politik geschürt werden, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung sich kaum darum schert. Bis auf eine Minderheit äußert da niemand Angst vor einem Überwachungsstaat, vor der angeblich kreuzgefährlichen Vorratsdatenspeicherung, vor den deutschen Geheimdiensten und denen der USA. Was Edward Snowden über die Aktivitäten der NSA preisgegeben hat, klingt zwar bedenklich – aber welcher Bürger dieses Landes kann einen Schaden vorweisen, der dem amerikanischen Nachrichtendienst anzulasten wäre?

Der Blick auf die reale Gefährdung der Republik zeigt bei mehreren aktuellen Angstthemen eine Tendenz zur Hysterie. Die hier lebenden Menschen sind nicht von militanten Islamisten sowie finsteren Schlapphut-Agenten umzingelt. Die nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge sind in ihrer überwältigenden Mehrheit weder Kriminelle noch Extremisten. Und die Gefahr, im Auslandsurlaub, sei es nun in Tunesien oder Frankreich, Opfer eines Anschlags zu werden, ist verschwindend gering. Das Risiko eines Verkehrsunfalls im Inland wie jenseits der Grenzen der Bundesrepublik ist weit höher. Doch wer verzichtet aus Angst vor einem Crash mit seinem Pkw oder Wohnmobil auf die Fahrt nach Südeuropa? Hier wird die Angst vor der Angst, das etwas Schlimmes passieren könnte, weitgehend ausgeblendet. Der ADAC-Schutzbrief wird schon wie ein Schutzengel wirken. Realistisch ist das genauso wenig wie die Terrorhysterie.

Es braucht mehr Gelassenheit

Deutschland braucht mehr serenidad. Das spanische Wort für Gelassenheit klingt wie ein mediterranes Urlaubsmotto. Aber es passt mehr hinein. Zum Beispiel Ausgeglichenheit. Und die Einsicht in das Unabwendbare. Es gibt keinen perfekten Schutz vor Terrorattacken. Erst recht nicht, wenn „einsame Wölfe“ wie der Amokfahrer in Nizza wie aus dem Nichts auftauchen, mit einem als Waffe instrumentalisierten Gerät, wie es alltäglicher kaum sein könnte - einem Lkw. Und doch müssen Staat und Gesellschaft rational, nicht hysterisch getrieben, permanent prüfen, wie der Schutz durch Polizei und Nachrichtendienste und Justiz gestärkt werden kann. Der Staat ist in der Bundesrepublik kein Angstgegner der Gesellschaft. Auch wenn das nicht jeder so sieht.

Serenidad, kombiniert mit Lebensfreude und Wachsamkeit, dürfte die beste, weil effektivste Rezeptur gegen Terror und Angst und Terrorangst sein. Gelingt das nicht, gerät das Land in einen mentalen Zustand, in dem es sich auch vor sich selbst fürchten muss. In einigen Gegenden, in denen Rassismus weit verbreitet ist, ist es schon fast soweit. Das wäre nicht die Republik, in der ich leben möchte.

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