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Anschlagsserie: Wie stabil ist der Irak?

Die US-Truppen ziehen ab. Doch eine blutige Anschlagsserie weckt Zweifel. Wie stabil ist der Irak?

Die Bombe war unter Gemüse und Obst versteckt. Augenzeugen sahen den Täter noch von der Motorrad-Rikscha abspringen und davonlaufen. Dann riss eine gewaltige Explosion 78 Menschen in den Tod – Bewohner des schiitischen Stadtteils Sadr-City im Norden Bagdads, die am Abend auf dem Mradi-Markt ihre Einkäufe machten. Viele der weit über hundert Verletzten – darunter Frauen und Kinder – wurden in den umliegenden Krankenhäusern noch auf den Fluren behandelt, als wenige Stunden später in einem Busbahnhof bereits die nächste Bombe hochging. Auch in Falludscha, im Westen Iraks, gab es am Donnerstag einen Anschlag mit mehreren Toten.

Der spektakuläre Machtkampf im Nachbarland Iran, aber auch das Vorrücken der Taliban in Afghanistan und Pakistan hat den Irak in letzter Zeit aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit verdrängt. Nach der jüngsten Serie ungewöhnlich blutiger Anschläge jedoch liegt das Thema wieder auf dem Tisch: Wie stabil ist der Irak wirklich? Und was passiert, wenn die US-Truppen ab nächster Woche abrücken – versinkt das Land erneut im Bürgerkrieg? Vergangenen Samstag starben bereits nahe Kirkuk 72 Menschen durch eine Lastwagenbombe, über 200 wurden verletzt. Wenige Tage zuvor tötete eine Autobombe in Nasirijah, der Hauptstadt der bis dahin ruhigen Provinz Dhi Qar, 19 Menschen.

Dabei will der Irak nächsten Dienstag groß feiern. Kinder brauchen nicht zur Schule gehen, die Universitäten bleiben geschlossen, die Arbeit ruht. Und Regierungschef Nuri al Maliki spricht von einem „großen Sieg“. Denn bis zum 30. Juni werden alle 131 000 amerikanische Soldaten aus den irakischen Städten verschwunden sein – der Anfang vom Ende der sechsjährigen US-Invasion. Keine GIs patrouillieren mehr auf den Straßen von Bagdad, Kirkuk, Falludscha und Mossul. Sie bleiben auf ihren großen Militärbasen und dürfen nur noch eingreifen, wenn sie von der irakischen Regierung gerufen werden. Bis zum 31. August 2010 fährt dann der Großteil endgültig nach Hause. Bis Ende 2011 rücken auch noch die restlichen 35 000 bis 50 000 Mann ab. In vielen Städten ist das Kommando bereits offiziell an die Iraker übergegangen, die inzwischen 250 000 Soldaten und 500 000 Polizisten aufbieten können. Auch die innerstädtische Militärbasis in Sadr-City hatten die Amerikaner kurz vor dem jüngsten Anschlag nach einer kleinen Feier geräumt.

Alles laufe nach Plan, fast überall sei man inzwischen „draußen“, versicherte der amerikanische Oberbefehlshaber im Irak, General Ray Odierno. „Ausbildung, Beratung und Koordination“ nennt er als künftige Schwerpunkte für die Arbeit seiner Einheiten. Innerhalb der Stadtgrenzen würde nur noch eine Handvoll Personal zurückbleiben. „Wir wollen einen souveränen, stabilen und selbstständigen Irak“, versicherte Odierno. Und dazu steuert die amerikanische Seite auch erhebliche Mengen an Ausrüstung bei. 8500 gepanzerte Geländewagen, Humvees, bekommt das irakische Militär, 5000 sind schon ausgeliefert. Auch die Kontrolle der 3600 Kilometer langen Grenze des Landes geht in nächster Zeit ganz in irakische Hände über. 700 Beobachtungsstationen wurden bereits gebaut. Die Grenze mit Syrien ist nach Einschätzung des Innenministeriums „gut gesichert“. Dagegen gibt es an der Grenze zum Iran immer noch einen beträchtlichen Waffenschmuggel für schiitische Milizen – ein Problem, das die Stäbe in Bagdad bis Mitte 2010 im Griff haben wollen.

Für Premierminister Nuri al Maliki ist dieser militärische Wachwechsel die wichtigste Herausforderung seiner politischen Laufbahn. Und er gibt sich selbstbewusst. Zwar warnte er vor neuen Angriffen Aufständischer, „die das Vertrauen in die irakischen Sicherheitskräfte erschüttern sollen“. Gleichzeitig aber kündigte er an, seine Regierung werde bei künftigen Kampfeinsätzen keine amerikanischen Truppen mehr zu Hilfe holen. Das Volk ist skeptischer. Als in Sadr-City kurz nach der Detonation erste irakische Uniformierte erschienen und in die Luft schossen, um Schaulustige zu vertreiben, begann die Menge sie wütend zu beschimpfen und mit Steinen zu bewerfen. „Unsere Sicherheitskräfte sind unfähig, das Volk zu schützen“, empörte sich ein junger Mann. Deshalb demonstrierten auch hunderte Iraker in Bagdad für eine bessere Sicherheitslage.

Auch bei zentralen politischen Reformen tritt die Regierung auf der Stelle. Es fehlt immer noch ein nationales Ölgesetz, welches die Einnahmen gerecht auf alle Landesteile verteilt. Keine Lösung gibt es für Kirkuk, wo Kurden und Araber heftig um die Dominanz in der Stadt kämpfen. Auch hat das Parlament noch kein Gesetz verabschiedet, das es der Regierung erlauben würde, effektiver gegen die weitverbreitete Korruption im Land vorzugehen. „US-Präsident Barack Obama kann es sich nicht leisten, den Irak zu verlieren“, sagt Kenneth Pollack, Experte für den Mittleren Osten bei der Brookings Institution, einem renommierten Think Tank in Washington. „Alles andere hätte unabsehbare Folgen – für Nachbarstaaten wie Saudi-Arabien und Syrien, aber auch für die ganze Region.“ Das Weiße Haus reagierte ungerührt. Die Zahl der schweren Anschläge sei in den vergangenen Monaten zurückgegangen, erläuterte Sprecher Robert Gibbs. Der Präsident habe keine neuen Zweifel am Truppenabzug. „Das Datum für den Rückzug wird eingehalten.“

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