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Politik: Antreten zum Protest

Türkische Militärs stellen sich gegen die Regierung – sie beharren auf der Trennung von Religion und Staat

Osman Pepe setzte lieber einen Helm auf. Der türkische Umweltminister war zusammen mit anderen hochrangigen Mitgliedern der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zur Trauerfeier für den von einem Islamisten erschossenen Richter Mustafa Yücel Özbilgin in Ankara erschienen – und wie die anderen Minister erlebte Pepe einen Spießrutenlauf. Mehrere zehntausend Demonstranten füllten den Platz vor der Kocatepe-Moschee im Zentrum der Hauptstadt. In Sprechchören gaben sie der Regierung eine Mitschuld an dem Richtermord und forderten deren Rücktritt. Einzelne Demonstranten bedrängten die Minister so sehr, dass Pepe sich den Helm eines Polizisten borgte.

Vize-Premier Abdüllatif Sener wurde von einem wütenden Demonstranten am Arm gepackt, Justizminister Cemil Cicek trat vorsichtshalber gleich die Flucht an – im Laufschritt, umgeben von seinen Leibwächtern und durch einen Hinterausgang. Unterdessen beklatschte die Menge die vollzählig erschienenen Generäle der Armee. Generalstabschef Hilmi Özkök rief öffentlich dazu auf, die Proteste gegen die Regierung fortzusetzen. Noch nie seit Erdogans Wahlsieg 2002 haben sich die Militärs so offen gegen die Regierung gestellt.

Erdogan selbst war nicht zur Moschee gekommen, sondern hatte es vorgezogen, im südtürkischen Antalya eine neue Straße einzuweihen. In einem Zeitungsinterview sprach er von einem „Komplott“ gegen seine Regierung. Einige Beobachter fühlen sich an das Jahr 1997 erinnert, als die Militärs den islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan von der Macht verdrängten.

In einem Zeitungskommentar wurde Erdogans Regierung am Freitag aufgefordert, in ihrer Haltung zum Kopftuchverbot nicht länger dem „Staat“ zu widersprechen. Laizisten in Armee, Justiz und Bürokratie treten als aufrechte Demokraten einer islamistischen Regierung entgegen, die durch ihre Politik ein Klima der Gewalt erzeugt – das ist das Bild, das Erdogans Gegner vermitteln wollen.

Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Zwar hat Erdogan in Kauf genommen, dass die Spannungen in der Gesellschaft wachsen. Doch die Laizisten mit den Militärs an der Spitze tragen auch eine Schuld an der Konfrontation.

Erdogan hat das große Reservoir der konservativen und religiösen Wähler im Land erfolgreich angezapft: In den Umfragen liegt seine Partei AKP mit bis zu 40 Prozent unangefochten an der Spitze. Die Erfolge der AKP-Regierung beim Wirtschaftswachstum und in der Europa-Politik haben das religiöse Lager selbstbewusster gemacht. Damit wuchsen auch die Spannungen zwischen der anatolisch-kleinbürgerlichen Anhängerschaft Erdogans und der städtisch-kemalistischen Elite, die sich als Bannerträger der Werte von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk sieht. Diese Elite tat nichts, um den Gegensatz zu überbrücken, im Gegenteil. Viele Laizisten in der Türkei ignorieren die Tatsache, dass die meisten türkischen Frauen nun einmal das Kopftuch tragen, und beanspruchen für sich die Auslegungshoheit über Rechte und Pflichten in einem säkularen Staat.

In dieser Situation werden vorgezogene Neuwahlen wahrscheinlicher. Bislang hatte Erdogan Forderungen nach Wahlen vor dem turnusgemäßen Termin im Herbst 2007 abgelehnt; wenn die Laizisten in Justiz, Bürokratie und Armee aber nun versuchen sollten, die Regierung zu torpedieren, wird sich Erdogan möglicherweise schon bald um ein neues Wählermandat bemühen.

Mit oder ohne Neuwahlen – weit reichende außenpolitische Entscheidungen, wie sie die EU verlangt, sind in der nächsten Zeit von der Türkei nicht zu erwarten. Vor allem die Öffnung der türkischen Häfen für Güter aus Zypern will Brüssel bis zum Herbst sehen. Sagt die Türkei weiter Nein, könnten die Beitrittsverhandlungen ausgesetzt werden. Schon unter normalen Bedingungen wäre die Hafenöffnung für die türkische Regierung innenpolitisch riskant. Die aufgeladene Stimmung nach dem Richtermord macht eine solch kontroverse Richtungsentscheidung noch unwahrscheinlicher.

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