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Souhayr Belhassen ist seit 2007 Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte.

© AFP

Arabischer Frühling: „Ganz Tunesien steht unter Schock“

Die Menschenrechtlerin Souhayr Belhassen über die Krise in ihrem Land und den wachsenden Einfluss der Islamisten

Seit dem Mord am Oppositionspolitiker Belaid regiert in Tunesien das Chaos. Scheitert die Jasmin-Revolution nachträglich?

Ich würde nicht von Chaos sprechen. Es handelt sich eher um eine politische Krise. Das Attentat auf Chokri Belaid hat zu einer Konfrontation zwischen Modernisierern und Islamisten in Tunesien geführt. Ganz Tunesien steht seit der Ermordung Belaids unter Schock – die Anhänger der islamistischen Regierungspartei Ennahda inbegriffen.

Wie kann man den tiefen Graben zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen – den Säkularen und den Religiösen – überwinden?

Zunächst einmal muss die Regierungspartei Ennahda von ihrem Anspruch abrücken, die alleinige Vormacht auszuüben. Die Ennahda-Partei tritt so auf, als würde sie den gesamten Staat verkörpern. Stattdessen sollte sie lediglich eine Regierung leiten. Und diese Regierung muss sich um einen Staat kümmern, der mitten im Umbruch begriffen ist. Die Krise spitzt sich noch zu, weil wir nach fünfzehn Monaten immer noch auf den Text einer neuen Verfassung warten. Auch ein neues Wahlrecht gibt es noch nicht. Das alles spielt sich vor dem Hintergrund einer sehr ernsten wirtschaftlichen und sozialen Lage ab – dabei hatte die Revolution doch neben der Beseitigung der Diktatur eine Verbesserung der alltäglichen Lebensbedingungen zum Ziel.

Bei den in Tunesien regierenden Islamisten spielt sich gerade ein Machtkampf zwischen den gemäßigten Kräften um Premierminister Hamadi Jebali und den Radikalen ab. Wer wird die Oberhand behalten?

Das lässt sich derzeit nicht voraussagen. Im Jahr 1992 hat die Ennahda-Partei eine ähnliche Krise durchgemacht. Damals haben sich die Radikalen durchgesetzt. Man muss Tunesien wünschen, dass sich das nicht wiederholt. Stattdessen muss es gelingen, den Islam an die Moderne anzupassen. Dagegen ist der Ennahda-Chef Rached Ghannouchi von einer islamistischen Ideologie geprägt, die gewissermaßen importiert ist und von Pakistan bis Marokko an Boden gewinnt. Diese Bewegung hat die Islamisierung ganzer Gesellschaften zum Ziel.

Wie erklären Sie es, dass immer mehr Frauen in Tunesien den Schleier tragen?

Das hat Ende der siebziger Jahre in der Amtszeit des damaligen Präsidenten Habib Bourguiba vor dem Hintergrund der Iranischen Revolution begonnen. Diese Entwicklung liegt also schon vor dem Entstehen der Ennahda-Bewegung. Die Ennahda-Partei geht heute aber noch einen Schritt weiter – was mittlerweile schon dreijährige Mädchen im Kindergarten zu spüren bekommen.

Frankreichs Innenminister Manuel Valls hat von einem „islamistischen Faschismus“ gesprochen, der in mehreren Staaten gleichzeitig sein Haupt erhebt. Würden Sie in Ihrer Wortwahl auch so weit gehen?

Man kann jedenfalls feststellen, dass es einen autoritären Islamismus gibt, der seine Gesetze Gesellschaften aufzwingen will, die sich modernisiert haben – erst in Ägypten, dann in Marokko und Tunesien. Wobei die Modernisierung in Tunesien schon am weitesten fortgeschritten war.

Seit dem Beginn der „Arabellion“ sind rund zwei Jahre vergangen. Wie schätzen Sie angesichts der aktuellen Entwicklungen die Chancen ein, dass sich in Nordafrika ein aufgeklärter, moderner Islam durchsetzt?

Um es klipp und klar zu sagen: Weder mit einem moderaten noch mit einem rigorosen Islam lässt sich regieren. Es müssen die Regeln des Laizismus gelten. Bei der Religion geht es um eine sehr private Beziehung, die man mit Gott hat. Man kann seine Religion ausüben oder auch nicht. Aber niemand hat das Recht, anderen ein quasi religiöses Regime aufzuzwingen. Tunesien befand sich seit dem Beginn der Revolution auf einem sehr guten Weg. Jetzt besteht der einzige sinnvolle Weg für das Land darin, die Religion und die Regierungsgeschäfte zu trennen.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

Souhayr Belhassen ist seit 2007 Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte. Die tunesische Journalistin ist die erste Frau an der Spitze der Organisation mit Sitz in Paris.

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