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Pionier. Israil Demir, 50, blieb wie den meisten anderen Aramäern damals nur die Flucht nach Europa. Nun will er sein altes Dorf wieder aufbauen.

© Güsten

Aramäer in der Türkei: Die Rückkehrer

Fast 30 Jahre lebte die Familie Demir in Deutschland, aber die Sehnsucht hat sie nie losgelassen. Mit ihren Kindern kehrte sie zurück in die Türkei – angekommen ist sie bis heute nicht.

Es duftet nach Deutschland bei den Demirs. Filterkaffee. Und auch sonst sieht es im Wohnzimmer aus, als habe die Familie die ganze Einrichtung aus Göppingen mitgebracht. Nahir, der vierjährige Sohn, versteckt sich kichernd hinter seiner Mutter auf dem Sofa. Dann beginnt er laut zu zählen. „Eins, swei, drei...“, er schafft es bis „zwölf, dreissehn, ähhhhm, fünfsehn...“ Sonja und Israil Demir lachen, auch ein bisschen stolz, denn ihr Jüngster war noch nie in Deutschland.

Nahir ist ein echtes Kind des Tur Abdin – der urchristlichen Landschaft im Südosten der Türkei, in der die Aramäer seit Jahrtausenden beheimatet sind. 2006 war das Ehepaar nach fast 30 Jahren in Deutschland mit seinen drei älteren Kindern zurückgezogen. Mit Nahirs Geburt besiegelte die Familie gewissermaßen ihre Ankunft in der alten Heimat. Doch nun sorgen sich die Eltern um die Zukunft des Jüngsten.

Eigentlich war die Rückkehr für Israil und Sonja Demir ein Lebenstraum gewesen. Die Aramäer, die noch immer die Sprache von Jesus Christus sprechen, hängen leidenschaftlich an ihrem Glauben und am Tur Abdin – einem Hochplateau im Südosten der Türkei, das mit hunderten uralten Kirchen und Klöstern übersät ist. Heute leben nur noch wenige Aramäer dort – eine winzige Minderheit inmitten der jetzt kurdischen Bevölkerung. Die meisten Aramäer flohen im Laufe des 20. Jahrhunderts nach Europa – vertrieben von der türkischen Assimilationspolitik, von kurdischen Zuwanderern und zuletzt vom PKK-Krieg. Doch die Sehnsucht hat sie nie losgelassen.

Die Demirs hatten in Göppingen ein neues Leben gefunden und sich gut integriert. Längst waren sie deutsche Staatsbürger geworden, hatten Kinder bekommen, ein Eigenheim und ein Auto. Doch als die Türkei sich vor 15 Jahren demokratisierte und die Aramäer zur Rückkehr aufforderte, brachen die Demirs voller Hoffnung in die alte Heimat auf. Zusammen mit anderen Rückkehrern aus Deutschland und der Schweiz haben sie ihr zerstörtes Dorf, Kafro, neu aufgebaut. Nach einem Jahrzehnt müssen sie jetzt einsehen: Die Rückkehr der Aramäer ist gescheitert – und das liegt nicht an ihnen, sondern an der Türkei und auch an Deutschland. Der Weg zurück, so stellt sich heraus, ist kaum leichter als die Flucht – und ohne politische Unterstützung nicht zu schaffen.

Nach dem Militärputsch fliehen sie nach Deutschland

„Haribo!“, ruft Nahir und läuft seiner Mutter nach, die aus der Einbauküche den Kaffee holt. Aus dem Fenster fällt der Blick weit über die mesopotamische Wildnis – die Hügel, auf deren verbrannter Erde die Dorfbewohner ihre Weinberge wieder aufpäppeln. Das großzügige Einfamilienhaus hat Israil Demir selbst gebaut, über den Ruinen seines Elternhauses. Seine gesamten Ersparnisse aus jahrzehntelanger Arbeit als Werkzeugmacher in Deutschland hat er in diese Rückkehr gesteckt.

„Haribo aus Deutschland“, sagt Sonja, lacht und holt die Tüte aus einem der oberen Küchenschränke. Deutsche Gummibärchen möchte die Familie nicht mehr missen, ebenso wenig wie das deutsche Fernsehen, ihre Satellitenschüssel haben sie entsprechend ausgerichtet. Was sie am meisten vermissen? „Pünktlichkeit, Korrektheit, Sauberkeit, Menschlichkeit, Wohlstand – die fehlen hier“, sagt Israil Demir, 50 Jahre alt. Ihm sei es bei der Rückkehr um die Zukunft seines Volkes gegangen, ohne Wurzeln in der Heimat würden seine Kinder ihre Kultur, Sprache und Identität verlieren, sagt Israil. „Deswegen habe ich mich zur Rückkehr entschieden. Nicht etwa, weil ich in Deutschland die Schnauze voll hatte.“

Israil Demir hatte seinerzeit gute Gründe zur Flucht. Sein Vater wurde von Banden aus den umliegenden Dörfern erschossen. Die Familie floh zunächst nach Istanbul und nach dem Militärputsch von 1980 weiter nach Deutschland. Bald darauf brach der Krieg zwischen kurdischen Rebellen und dem türkischem Staat aus, der auch auf dem Land der Aramäer ausgetragen wurde und den Tur Abdin verwüstete. Die letzten Bewohner von Kafro wurden 1994 vertrieben, als das Militär das Dorf räumte.

Zwei Jahre nach seiner Rückkehr hätte Israil Demir fast das Schicksal seines Vaters ereilt. Nomadische Hirten trieben im Frühjahr ihre Herden mit tausenden Tieren über seine Felder und vernichteten die junge Saat. Die Dorfbewohner liefen hinaus und forderten die Hirten auf, ihr Land zu verlassen. „Das hat dene gestunke“, schwäbelt Israil. Einer der Hirten hob die Flinte und schoss ihn nieder. Drei Tage lang lag der Familienvater im Koma. Vom Täter sagten die Behörden damals, sie hätten ihn nicht finden können – „obwohl er mit ein paar tausend Schafen unterwegs war“, sagt Israil Demir. Erst Jahre später wurde er gefasst und vor Gericht gestellt.

Was den Familienvater aber viel mehr aufregt als die rauen Sitten der Region, das sind die Scherereien mit dem deutschen Staatsbürgerschaftsrecht. Nervös trommelt er mit der Hand auf der Sofalehne, wenn er davon erzählt. Nach seiner Rückkehr wurde er als deutscher Staatsbürger wie ein Ausländer behandelt. Um das vom Vater geerbte Land auf sich eintragen lassen zu können, nahm er die türkische Staatsbürgerschaft wieder an – auf Rat eines deutschen Diplomaten. Dieser habe ihm bei einem Delegationsbesuch im Dorf zugesichert, man werde die Rückkehrer unterstützen.

Nach der Rückkehr ist die Familie auf sich allein gestellt

Doch es kam anders. „Als Nahir geboren wurde, sind wir zum deutschen Konsulat in Ankara“, erzählt Israil. „Da haben sie mir wegen der türkischen die deutsche Staatsbürgerschaft wieder entzogen.“ Jahre später hat Israil diesen Schock noch nicht verwunden. „27 Jahre war ich in Deutschland, und dann nehmen sie mir den Pass weg“, ruft er und schlägt mit der flachen Hand aufs Sofa. Israil Demir müsste nun ein Visum im fünf Autostunden entfernten deutschen Honorarkonsulat beantragen, wenn er seine Angehörigen in Europa besuchen will: drei Schwestern in der Schweiz, eine Schwester und die Schwiegermutter in Augsburg, ein Bruder in Göppingen, die Cousins in Wiesbaden.

Die Aramäer des Tur Abdin leben heute überwiegend in Deutschland und Europa – keine 2000 sind es in der Umgebung, dafür 120 000 alleine in Deutschland und insgesamt 300 000 in Westeuropa. Seinen Landsleuten wollte Israil mit gutem Beispiel vorangehen, zeigen, dass eine Rückkehr möglich ist. Doch nun muss er feststellen, dass er überall auf Widerstände stößt.

Den Pass musste nur der Vater abgeben – die anderen Familienmitglieder sind aber nach wie vor deutsche Staatsbürger: Sonja, Nahir, der ältere Sohn und die beiden Töchter. Doch auch das bereitet Probleme. Amedya, die ältere Tochter, hat sich durch die türkische Dorfschule und das Gymnasium durchgebissen, hat in Diyarbakir studiert und den Abschluss als Deutschlehrerin geschafft. Doch nun kommt sie nicht weiter: Weil sie nicht türkische Staatsbürgerin ist, kann sie nicht verbeamtet werden, bekommt keine Krankenversicherung und kann am Gymnasium in Midyat nur als schlecht bezahlte Hilfskraft arbeiten. Ihrer Schwester, die Englischlehrerin werden will, wird es nicht besser gehen. Nemrut, der ältere Sohn, hat bereits aufgegeben. Der Junge ist, als er 19 wurde, nach Deutschland zurückgezogen und hat eine Lehre als Fachinformatiker begonnen. Die Eltern rechnen nicht damit, dass er wiederkommt.

Die Lage spitzt sich zu. Die Baufirma der Demirs bekommt keine Aufträge mehr, seit der Kurdenkrieg wieder eskaliert und die christlichen Rückkehrer ausbleiben, deren Häuser Israil Demir gebaut hat. Seit einem Jahr hat er keine Arbeit mehr, kein Einkommen, langsam wird es eng. „Es ist nicht so wie in Europa, dass man Arbeitslosengeld bekommt oder versuchen kann, etwas anderes zu finden,“ sagt er. „Hier gibt es nichts. Man ist auf sich alleine gestellt.“

Die Kinder der Rückkehrer gehen zurück nach Europa

Und nun wird es wegen des Kurdenkrieges auch noch gefährlich. Um die nahen Städte Nusaybin und Cizre wird seit Wochen gekämpft – mit kurdischen PKK-Rebellen auf der einen und der türkischen Armee auf der anderen Seite. Kürzlich hat die PKK einen türkischen Militärposten in Sichtweite vom Dorf angegriffen, sagt Israil Demir. „Eine halbe Stunde wurde gekämpft und geschossen, mit richtig schweren Waffen.“ Anschließend brannte der Wald. Die Dorfbewohner kämpften eine ganze Nacht lang gegen die Flammen, dennoch sind auf den Weinbergen viele Hektar verbrannt. Die Aramäer fühlen sich verraten, denn eigentlich hatten PKK und der türkische Staat ihre Rückkehr befürwortet und Unterstützung versprochen. „Wir erwarten vom Staat, dass er uns schützt,“ sagt er. „Aber wir werden alleine gelassen.“

Der kleine Nahir kommt wieder ins Wohnzimmer gesprungen. „Ich geh Kindergarten!“, ruft der Junge, doch da müssen die Eltern passen. Einen Kindergarten gibt es in Kafro nicht, auch wenn die Rückkehrer mit ihren Ersparnissen für fast alles andere gesorgt haben: Kirche, Sportplatz, Spielplatz, Internetcafé und sogar ein hübsches Restaurant mit dem einzigen echten Pizza-Ofen in ganz Ostanatolien. Auf dem Weg zu den Nachbarn hüpft Nahir an der Hand seiner Mutter durchs Dorf. Sonja Demir lächelt und blickt auf den Kleinen hinunter. „Nahir war sehr traurig, als sein Bruder nach Deutschland gegangen ist – sehr, sehr traurig“, sagt sie. „Ich wollte das natürlich auch nicht, aber wir können Nemrut nicht zwingen, hier zu bleiben.“ Seine Entscheidung hat die Mutter nachdenklich gemacht. Wenn im Laufe der Jahre alle ihre Kinder wieder nach Deutschland zurückgehen: „Was soll ich dann hier?“ Im Dorf geht es vielen ähnlich. Israil Demir zeigt auf die Häuser all der Rückkehrer, denen die Kinder weggelaufen sind nach Europa. „Nemrut ist weg, Gabriel ist weg, Meryem ist weg, Augin ist weg, der andere Augin ist weg, Shmuni ist weg, Josef ist weg, der andere Gabriel ist weg, Rachel ist weg, Rafael ist weg, Michael ist weg …“

Wieder zu Hause angekommen, hallen die Schritte im Wohnzimmer. Das neue Haus, vor knapp zehn Jahren für eine große Familie mit vielen Besuchern gebaut, ist still und leer. Israil Demir, der Pionier, ist entmutigt. Für sich selbst bereue er die Rückkehr keinen Augenblick, sagt Israil. „Aber ich habe diesen ersten Schritt getan, damit meine Landsleute mir folgen“, sagt er. Das ist nicht geschehen. Ohne Unterstützung, das hat Israil Demir in diesen zehn Jahren zu spüren bekommen, kann es Kafro nicht schaffen.

Aber von der deutschen Botschaft in Ankara haben die Dorfbewohner schon seit Jahren nichts mehr gehört; ihr jüngstes Schreiben an die deutsche Vertretung blieb unbeantwortet. Bei Keksen und Filterkaffee in weißen Porzellantassen hält die Familie Demir noch durch in ihrem deutschen Wohnzimmer in Kafro, während rings um sie der PKK-Krieg tobt und der Islamische Staat im 25 Kilometer entfernten Syrien auf Christenjagd geht. Dass es für den kleinen Nahir ein Zukunft im Tur Abdin gibt, daran haben die aramäischen Christen schon fast den Glauben verloren.

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