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Der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele.

© Nicolas Armer/dpa

Arbeitsagentur-Chef Detlef Scheele: "Wenn man die Arbeit verliert, entwertet das den Menschen"

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, über Langzeitarbeitslose, Kinder aus Hartz-IV-Haushalten und das bedingungslose Grundeinkommen.

Detlef Scheele (60) übernahm im April dieses Jahres die Leitung der Bundesagentur für Arbeit mit rund 100.000 Mitarbeitern. Zuvor hatte er viele Jahre eine Beschäftigungsgesellschaft in seiner Heimatstadt Hamburg geleitet, und er war dort auch Sozial- und Jugendsenator.

Herr Scheele, was bedeutet es, arbeitslos zu sein in einer Gesellschaft, die sich über Arbeit definiert?

Arbeit ist in unserem Land mehr als Gelderwerb. Wenn man die Arbeit verliert, entwertet das den Menschen. Ich habe das oft genug erlebt: Arbeitslose vereinzeln, sie verlieren ihr Umfeld im Betrieb, sie geben sich selbst die Schuld. Und wenn jemand länger arbeitslos ist, hat das Folgen für die gesamte Familie.

Welche Folgen?

In Hamburg hatte ich als Sozial- und Jugendsenator mit Kindern zu tun, deren Eltern seit Langem arbeitslos waren. Genauso sah es bei ihren Freunden aus. Diese Kinder kennen nichts anderes als Grundsicherung. Erziehung funktioniert aber über Vorbilder. Wer so aufwächst, hat viel schlechtere Perspektiven als ein Kind aus einem Stadtteil, in dem Mittelschichtfamilien wohnen. Für ein reiches Land wie Deutschland ist das kein schöner Befund.

Sie haben lange eine Beschäftigungsgesellschaft geleitet. Empfinden die Menschen es als demütigend, wenn sie arbeitslos werden und zum Amt gehen müssen?

Vorweg gesagt: Man muss es nicht als Demütigung empfinden. Wenn man arbeitslos wird, hat man Anspruch auf Sozialleistungen. Unabhängig davon geht es vielen Menschen schlecht, wenn sie ihre Stelle verlieren. Viele Arbeitslose fühlen sich minderwertig. Das finde ich bedrückend.

Seit 2011 liegt die Zahl der Hartz-IV-Bezieher bei etwa vier Millionen Menschen. Deutschland kann auf eine Rekordbeschäftigung verweisen, doch trotz guter Wirtschaftslage sinkt die Zahl derjenigen nicht, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Müssen wir uns damit abfinden?

Nein, damit darf man sich nie abfinden. Der Befund ist aber: Wer schon lange in der Grundsicherung ist, hat es besonders schwer, da wieder rauszukommen. Die Leute haben entweder keinen Abschluss oder sind so lange aus ihrem Beruf raus, dass ihre Kenntnisse nicht mehr zählen. Gerade die Älteren haben oft gesundheitliche Probleme. Diesen Personenkreis in eine Arbeitswelt zu integrieren, in der die Anforderungen eher steigen, ist schwierig. Da gehört schon eine Portion Glück dazu.

Das klingt so, als ob Sie resigniert hätten.

Nein, überhaupt nicht. Aber umso wichtiger ist es, dass wir verhindern, dass Menschen dieses Schicksal erleiden. Das fängt bei den Kindern an. Wir müssen dafür sorgen, dass sie die Schule nicht ohne Abschluss verlassen und den Übergang in den Beruf gut hinbekommen. Das ist am erfolgversprechendsten.

Wer Arbeitslosigkeit für Schicksal hält und ein bedingungsloses Grundeinkommen für moralisch verwerflich, […] lebt mental noch in den 60ern und ist von sich selbst gerührt den guten Onkel spielen zu dürfen. In dieser Behörde muss nicht bloß entbürokratisiert werden, sondern auch gehörig entpaternalisiert.

schreibt NutzerIn Garzauer

Und was ist mit denen, die schon seit Jahren in Hartz IV stecken? Haben wir es mit einer verlorenen Generation zu tun?

Ich finde es schwierig, von einer verlorenen Generation zu reden. Natürlich stimmt es: Für jemanden ohne berufliche Qualifikation, der womöglich älter ist und gesundheitliche Probleme hat, bietet der Arbeitsmarkt kaum Einstiegschancen. Ich bin aber strikt dagegen, diese Menschen einfach herumsitzen zu lassen, bis sie in die Rente übergehen, weil sie die Altersgrenze erreichen. Als Ultima Ratio bin ich deshalb dafür, öffentlich geförderte Arbeitsplätze zu schaffen.

Sie wollen also zurück zu den Arbeitsmarktbeschaffungsmaßnahmen der 90er Jahre?

Nein, überhaupt nicht. Damals sind Arbeitslose in ABM-Maßnahmen geschickt worden, die vermittelbar gewesen wären. Das war ein Fehler. Es gibt aber Menschen, die so gut wie keine Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Da kann man doch die Frage stellen, ob man diese Menschen dauerhaft alimentieren will oder ob man für sie zumindest befristet staatlich finanzierte Jobs schafft. Mir ist lieber, wir bezahlen Arbeit statt Arbeitslosigkeit.

Wie hilft das den Betroffenen?

Wenn sie Arbeit haben, gibt ihnen das ein Stück Würde zurück. Sie können abends stolz sein auf das, was sie getan haben. Wenn Kinder im Haushalt wohnen, ist das umso wichtiger. Und selbst für einen Stadtteil ist es doch besser, wenn die Leute zur Arbeit gehen und nicht den ganzen Tag auf der Bank sitzen.

Auch Ihre Parteikollegin, Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), denkt in diese Richtung. Was würde ein sozialer Arbeitsmarkt denn kosten?

Das kann man nicht pauschal sagen. Unser Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht von ungefähr 100.000 bis 200.000 Menschen in Deutschland aus, für die öffentlich geförderte Arbeit sinnvoll wäre. Es muss aber den politischen Willen geben, so ein Programm zu finanzieren. Im Moment ist der Haushalt im Sozialgesetzbuch II gedeckelt, die Spielräume sind eng. Derzeit ginge das nur zulasten anderer Programme.

Aus Hamburg haben Sie den Ansatz der „fürsorglichen Belagerung“ von Arbeitslosen in die Bundesagentur mitgebracht. Was verbirgt sich dahinter?

Ich habe erlebt, dass Langzeitarbeitslosigkeit sich vererbt. Diesen Teufelskreis wollen wir durchbrechen. Wenn unsere Berater und Vermittler Arbeitslose und ihre Familien häufiger treffen, steigen die Vermittlungschancen. Dazu gehört aber auch, dass die Ämter besser kooperieren. Die Jobcenter müssen engen Kontakt halten zu den Jugendämtern und den Schulen.

Was bringt das?

Dann merkt man frühzeitig, ob etwas schiefgeht, und kann eingreifen. Wie in dem Fall der alleinerziehenden Mutter, die einen Meldetermin beim Jobcenter versäumt hatte. Ihr sollte der Regelsatz gekürzt werden. Als wir vom Jugendamt erfuhren, dass in der Familie große Probleme bestanden und sie gleichzeitig gute Chancen auf eine Vermittlung hatte, haben wir zunächst die Sanktion nicht vollzogen. Heute hat die Frau Arbeit.

Bringen Sanktionen denn überhaupt etwas oder könnte man nicht darauf verzichten?

Nein, ein Sozialgesetzbuch ohne Sanktionen funktioniert nicht. Es braucht klare Spielregeln.

Gilt das auch für Jugendliche?

In Hamburg haben wir mal ein Projekt gemacht, das hieß „Arbeit sofort“. Üblicherweise werden Jugendliche aus solchen Maßnahmen geworfen, wenn sie fehlen. Wir haben damals den Spieß umgedreht und gesagt, egal was du machst, du bleibst dabei. Wir haben den Jugendlichen nicht mit Rauswurf „gedroht“, sondern mit Arbeit. Wenn die morgens nicht kamen, standen wir am nächsten Tag bei denen vor der Haustür. Ich bin von solchen Ansätzen überzeugt. Was haben wir denn davon, wenn wir einen 21-Jährigen ohne Schulabschluss aus einer Maßnahme werfen? Das eigentliche Problem wird so nicht gelöst.

Muss man als Mitarbeiter im Jobcenter Empathie für Arbeitslose mitbringen?

Natürlich braucht man Empathie, aber auch die Fähigkeit, sich abzugrenzen. Wenn einem tagsüber Menschen von ihren Problemen erzählen, darf man das nicht abends mit nach Hause bringen.

Für eine intensive Betreuung von Arbeitslosen brauchen Sie das entsprechende Personal. Im Moment ist die Hälfte der Mitarbeiter in den Jobcentern aber damit beschäftigt, Leistungen zu berechnen. Muss sich das ändern?

Es wäre in der Tat gut, wenn wir weniger Mitarbeiter mit der komplizierten Berechnung von Arbeitslosengeld-II-Ansprüchen beschäftigen müssten. Das Sozialgesetzbuch (SGB) II muss entbürokratisiert werden. Die Einzelfallgerechtigkeit, die im Gesetz steht und durch zahlreiche Gerichtsurteile entstanden ist, macht die Verwaltung viel zu kompliziert. Ich fände es gut, wenn die Politik einen neuen Anlauf für eine Rechtsvereinfachung nehmen würde.

Können Sie ein Beispiel für zu viel Bürokratie nennen?

Da müssen Sie sich nur das Konstrukt der temporären Bedarfsgemeinschaft anschauen. Ein Kind lebt zeitweise bei der Mutter und beim Vater. Ein Elternteil ist auf Grundsicherung angewiesen, das andere nicht. Da müssen Ansprüche verrechnet werden, ein enormer Aufwand. Oder die Vorschriften zur Anrechnung von Erwerbseinkommen. Die füllen Seiten.

Brauchen wir eine Generalrevision von Hartz IV?

Natürlich muss man das SGBII laufend überarbeiten, aber eine Runderneuerung halte ich nicht für notwendig. Ich hätte aber einen konkreten Vorschlag. Ich fände es gut, Leistungsbezieher mit einem Unterhaltsgeld zu belohnen, wenn sie eine Weiterbildung machen.

Warum ist das nötig?

Wer heute seinen Berufsabschluss nachholt, erhält den Regelsatz von 409 Euro im Monat. Viele Leute brechen die Kurse ab, sobald sie einen Job mit einem Stundenlohn von zehn Euro angeboten bekommen. Wenn wir durch einen finanziellen Anreiz mehr Menschen motivieren können, eine Weiterbildung abzuschließen, zahlt sich das langfristig aus.

Apropos Regelsatz: Kann man mit 409 Euro im Monat klar kommen, wenn man über Jahre darauf angewiesen ist?

Natürlich freut sich keiner über 409 Euro im Monat. Aber das ist der Betrag, der gesetzlich festgelegt ist. Es darf auch keine Schieflage geben zulasten der Leute mit kleinem Einkommen. Es ist nun einmal so: Der eine nimmt, der andere gibt. Das muss zueinanderpassen. Der Transfer darf auch nicht so hoch sein, dass es sich für die Leute nicht mehr lohnt, arbeiten zu gehen.

Was haben Sie sich als BA-Chef für die nächsten fünf Jahre vorgenommen?

Ich werde mich daran messen lassen, ob es mir gelingt, die Langzeitarbeitslosigkeit zu reduzieren. Das ist eine mühsame Aufgabe, bei der keine großen Sprünge zu erwarten sind. Umso wichtiger ist es, dass wir der Langzeitarbeitslosigkeit durch Prävention das Wasser abgraben.

Kommen wir zum Wandel in der Arbeitswelt. Die Digitalisierung führt dazu, dass Maschinen und Roboter mehr Tätigkeiten übernehmen. Was glauben Sie: Geht uns die Arbeit aus?

Nein, die Arbeit wird uns nicht ausgehen. Natürlich werden Arbeitsplätze wegfallen, aber es entstehen auch neue. Unser Arbeitsmarktinstitut IAB geht davon aus, dass in Deutschland durch die Digitalisierung etwa 1,5 Millionen Jobs verschwinden, dafür aber auch 1,5 Millionen neue entstehen. Klar ist: Arbeitsplätze werden in Zukunft anspruchsvoller.

Führt das nicht dazu, dass dann doch wieder viele Menschen abgehängt werden?

Weiterbildung wird in Zukunft noch wichtiger. Als Bundesagentur werden wir außerdem eine lebenslange Berufsberatung anbieten. Bisher erproben wir ein solches Konzept in den Arbeitsagenturen Düsseldorf, Kaiserslautern-Pirmasens und Leipzig. Ab 2019 wollen wir das bundesweit einführen. Wir wollen die Menschen, die noch im Job sind, beraten, wie sie mit ihrer Qualifikation in ihrem Betrieb und in ihrer Region dastehen. Das richtet sich vor allem an Un- und Angelernte oder Mitarbeiter aus kleineren Betrieben, die kein eigenes Weiterbildungsangebot haben. Wenn nötig, können wir nach der Diagnose auch mit Fortbildungen weiterhelfen.

Die Arbeitswelt wird anspruchsvoller, gleichzeitig gibt es gesellschaftliche Tätigkeiten, die brachliegen. Ist es da nicht eine charmante Idee, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen?

Nein, ich bin strikt dagegen. Ein Grundeinkommen halte ich für moralisch verwerflich. Der Staat würde sich freikaufen von seiner Verantwortung, sich um die Arbeitslosen zu kümmern. Es mag altruistische Akademiker geben, die gerne ein Leben mit Grundeinkommen führen würden. Aber die meisten Menschen, die arbeitslos sind oder in schwierigen Beschäftigungsverhältnissen stecken, wollen lieber eine ordentlich bezahlte Arbeit.

Was bedeutet Arbeit für Sie persönlich?

Stolz, Zufriedenheit, Familiengründung, all das hat für mich nur mit Arbeit funktioniert. Ohne Arbeit wäre mein Leben weniger erfüllt gewesen.

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