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Vor dem Bundestag machten armenische Demonstranten mit einem großen Spruchband klar, was sie vom Parlament erwarteten: eine klare Aussage.

© Stephanie Pilick/dpa

Armenien-Gedenken im Bundestag: Das Ende der Leisetreterei: Es war Völkermord

Mit einer Debatte ist im Bundestag der Opfer der Massaker und Vertreibungen an den Armeniern vor 100 Jahren gedacht worden. Dabei ging es um Geschichte und nicht um Diplomatie. Alle Koalitionen waren sich einig: Es war Völkermord.

Von Robert Birnbaum

Frank-Walter Steinmeier sieht relativ rot aus. Wie eine mühsam gedimmte Warnleuchte glüht das Gesicht des Bundesaußenministers unter seiner weißen Mähne von der Regierungsbank. Der Bundestag ist versammelt zur Gedenkstunde. Die Anzeigetafeln zeigen das offizielle Thema: „Vertreibung und Massaker an den Armeniern 1915/16“. Wäre es nach Steinmeier gegangen, wäre damit alles gesagt. Aber es geht am Freitag nicht nach dem Chefdiplomaten von der SPD. Norbert Lammert braucht keine zwei Minuten, um die offizielle Wortwahl alt aussehen zu lassen. „Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, war ein Völkermord“, sagt der Bundestagspräsident.

Lammert hat seine Rolle einmal als „Klassensprecher des Parlaments“ umschrieben. Heute füllt er sie voll aus. Von rechts bis links prasselt Beifall. Das wird sich in der nächsten Stunde bei fast allen Rednern wiederholen. Seit Wochen schwelt der Streit, wie man den staatlich befohlenen Massenmord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten vor 100 Jahren in der späteren Türkei nennen soll. Lange sah es so aus, als würden SPD und Union mitmachen bei dem Versuch, das heikle Wort zu meiden, das die heutige Türkei immer noch maßlos aufregt. Aber am Freitag ist klar: Das Parlament sagt sich vom Leisetreten los.

Es geht da um mehr als Wortklauberei über ein Ereignis fern im Osten. Das deutsche Kaiserreich hat von der Untat des Kriegsverbündeten gewusst, deutsche Offiziere haben sie gebilligt, manche aktiv unterstützt. „Diese Mitschuld einzuräumen ist Voraussetzung unserer Glaubwürdigkeit“, betont Lammert. Die Linke Ulla Jelpke zitiert ebenso wie die CDU-Frau Erika Steinbach aus den Briefen der zynischen Mitwisser und denen der entsetzten Zeugen, die vom Abschlachten und Krepieren eines Volkes auf Todesmärschen in die Wüste berichteten. Dass das manche nicht beim Namen nennen wollten – „ich kann es nicht verstehen“, sagt Steinbach: „Wir fallen damit den mutigen Kräften in der Türkei in den Rücken.“

Die frühere Vertriebenenchefin war unter denen, die am Dienstag in der Sitzung der Unionsfraktion der eigenen Führung die Gefolgschaft kündigten. Da mochte Angela Merkel um Verständnis für die Diplomatie werben und Volker Kauder um Verständnis für den Koalitionspartner – sie drangen nicht durch. „Wir Abgeordneten sind nicht die Sprecher des Auswärtigen Amtes“, hielt Michael Brand beiden entgegen, der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses. Am Freitag im Plenum wird sein Kollege im Auswärtigen Ausschuss am deutlichsten. Er verstehe ja normalerweise das Argument der Diplomaten, dass man abwägen müsse im Umgang mit einem Partnerland, zumal diese Frage in dessen Identitätsgefühl eingreife, versichert Norbert Röttgen. Nur, sagt der Christdemokrat: „Bei Völkermord hört die Abwägung auf.“

Steinmeier glüht wieder. In der ersten Reihe der Union starrt Volker Kauder den Redner an. Als Röttgen mit dem Satz endet: „Heute beenden wir das Verdrängen“, stimmt aber auch der Fraktionschef in den Beifall ein. Schließlich hat sein eigener Stellvertreter Christoph Bergner als Hauptredner der Union nichts anderes gesagt: Er verstehe das Anliegen, um der Versöhnung willen Rücksicht auf türkische Befindlichkeit zu üben; aber die Rücksicht ende dort, „wo grammatische Zurückhaltung zu Verharmlosung führt“.

Nur einer nimmt das V-Wort nicht direkt in den Mund. Gernot Erler ist Staatsminister bei Steinmeier. Erler betont besonders, was alle anderen aber ebenfalls hervorheben: dass es hier nicht darum gehe, einen Verbündeten zu belehren oder bloßzustellen. Aber selbst er kommt nicht darum herum, von einer „genozidalen Vertreibung“ zu sprechen.

Andere SPD-Redner verstecken sich nicht hinter Fremdworten. Der Abgeordnete Dieter Nietan zitiert sogar die Mahnung, die der Nobelpreisträger Elie Wiesel vor Jahren dem Bundestag am Holocaust-Gedenktag mitgab: „Wer sich dazu herbeiläßt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.“ Der Opposition fällt Klartext sowieso leicht. Freilich – auch Jelpke für die Linke und Grünen-Parteichef Cem Özdemir werben zugleich in Richtung Ankara. „Es geht hier nicht um Überheblichkeit“, sagt Özdemir, nur um einen Rat: „Wer sich mit den dunklen Flecken der Geschichte beschäftigt, der wird dadurch nicht kleiner, der wächst daran.“ Am Ende überweist der Bundestag alle Anträge in die Ausschüsse, auch jene ziselierte Resolution, die die Spitzen der Koalition mit Regierung und Bundespräsidialamt ausgehandelt hatten. Das Wort „Völkermord“ kommt vor, der Bezug zu den Armeniern bleibt aber indirekt. Bundespräsident Joachim Gauck hat die Formel am Vorabend im Berliner Dom benutzt. Aber auch er hat einen Halbsatz hinzugefügt über den „Völkermord an den Armeniern“. In den Ausschüssen wird dieser Halbsatz seinen Weg in eine Resolution finden, die der Bundestag einmütig verabschieden könnte. „Eine klare Formulierung halte ich für unerlässlich“, sagt der CSU-Mann Bernd Fabritius. Das Parlament will nicht mehr leisetreten.

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