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Armut im Osten: Strukturprobleme fördern Arbeitsmarktkrise

Wenn in Deutschland von wachsender Armut die Rede ist, dann alarmiert nicht nur die Zahl der betroffenen Kinder. Auffällig ist auch, dass das Armutsrisiko in Ostdeutschland deutlich höher ist als im Westen.

Leipzig - Nach der vieldiskutierten Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gehört jeder fünfte Ostdeutsche einer neuen gesellschaftlichen Unterschicht an. Sind die Menschen in den neuen Ländern etwa zu unflexibel, um sich nach einem Jobverlust wieder hochzurappeln? Diesem Vorurteil setzen Experten ein klares Nein entgegen. Joachim Ragnitz vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) sieht als Ursache vielmehr ein "Gemenge von Problemen", die wesentlich durch den Strukturwandel nach der Einheit entstanden sind.

Laut dem Datenreport 2006, der unter anderem vom Statistischen Bundesamt erstellt wird, lag der Anteil der Menschen, die unter die Armutsgrenze fallen, 2004 im Osten bei durchschnittlich 18,4 Prozent - und damit deutlich höher als in den westdeutschen Flächenländern. Dort bewegte sich die Quote zwischen 10,5 und 11,2 Prozent. Laut der FES-Studie sehen sich 20 Prozent der Ostdeutschen unter anderem mit Blick auf Wohnverhältnisse, Einkommen, Beschäftigung und Gesundheit auf der Verliererseite. Im Westen beträgt der Anteil vier Prozent.

Ostdeutsche werden ins Abseits gedrängt

Dass viele Ostdeutsche aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit ins Abseits gedrängt werden, ist nicht neu. Die Menschen wollen arbeiten, in vielen Regionen gibt es aber schlichtweg zu wenig Jobs. Von Armut seien zum großen Teil Leute betroffen, die "seit der Wende von Maßnahme zu Maßnahme stolpern", meint Ragnitz. Hinzu kommt ein für Ostdeutschland dramatischer Selektionsprozess: Gut ausgebildete und jüngere Menschen wandern auf der Suche nach Arbeit oder Ausbildung in den Westen ab. Zurück bleiben diejenigen, die aus familiären oder persönlichen Gründen gebunden sind oder aber Geringqualifizierte. In Regionen, die besonders stark von Schrumpfung betroffen seien, werden sich die Lebensverhältnisse auf Dauer nur auf 70 bis 80 Prozent des Westniveaus angleichen, sagt der IWH-Experte.

An Flexibilität und Willen mangelt es der Mehrheit der Ostdeutschen nicht. Da sind sich die Experten einig. "Was das Berufsleben betrifft, ist die Flexibilität im Osten deutlich höher als im Westen", sagt Ragnitz und verweist auf die vielen "Fernpendler". Gleichwohl gebe es eine "gewisse Schicht", in der die Mobilität nicht so groß sei. Dies habe sehr stark mit dem Bildungsgrad zu tun. Gleiches gelte allerdings auch für Westdeutschland. Es sind vor allem Strukturprobleme, die das Armutsrisiko im Osten erhöhen. "Nach der Wende konnten sich die einstigen DDR-Industriestandorte unter Weltmarktbedingungen nicht mehr halten und brachen zusammen", sagt Ragnitz. Der von der Politik vielbeschworene Aufschwung kam nicht wie gedacht, und aus den Strukturproblemen entstand eine Arbeitsmarktkrise.

Psychologische Belastung durch Arbeitslosigkeit

Armut misst sich freilich nicht nur am Kontostand. "Auch wenn jemand mit dem Geld vom Staat finanziell über die Runden kommt, so ist es doch eine starke psychologische Belastung, keine Arbeit zu finden", weiß der Soziologe Rainer Geißler von der Uni Gießen. Manche Menschen hätten "keinen Mut, keine Energie und keinen Willen" mehr, ihre soziale Situation zu verbessern.

Der Hallenser Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz therapiert Ostdeutsche, die ihren Lebenssinn verloren haben, aber noch nicht aufgeben wollen. Rund 60 Prozent der Patienten, die zu ihm ins Diakoniekrankenhaus kommen, sind arbeitslos. Viele der im Schnitt 30-jährigen Patienten haben schon mehrfach versucht, etwa durch Umschulungen dem Teufelskreis Arbeitslosigkeit zu entkommen. "Bei denen wächst die Enttäuschung, trotz mehrfacher Bemühungen keine Chance zu haben", sagt Maaz. Die Betroffenen leiden unter Depressionen, Ängsten, Schlafstörungen oder Beziehungsproblemen. Laut Maaz suchen zunehmend Jüngere Hilfe: "Die Älteren kommen kaum noch und holen sich ihre Medikamente gleich beim Arzt."

Im Osten droht "Altersarmut"

Wenn die heutigen Langzeitarbeitslosen und Geringverdiener in Rente gehen, droht im Osten nach Einschätzung von Wirtschaftsexperten eine neue Altersarmut. Denn die Rentenansprüche der Menschen, die heute an der Armutsschwelle leben, sind sehr gering, wie Joachim Ragnitz sagt: "Künftige Rentnergenerationen im Osten werden deutlich ärmer sein". (tso/AFP)

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