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Politik: Armut in Deutschland: Vor allem Familien mit Kindern gefährdet

In Deutschland verfügt etwa jeder elfte Bürger über so wenig Einkommen, dass er als arm gilt. Damit ist die Zahl der Armen nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, des DGB und der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in den vergangenen Jahren weitgehend konstant geblieben.

In Deutschland verfügt etwa jeder elfte Bürger über so wenig Einkommen, dass er als arm gilt. Damit ist die Zahl der Armen nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, des DGB und der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in den vergangenen Jahren weitgehend konstant geblieben. Dennoch "haben wir keine Unterklasse" in der Bundesrepublik, stellte Walter Hanesch, der Sozialpolitik an der Fachhochschule Darmstadt lehrt, am Mittwoch fest, als er die Studie für das Jahr 1998 in Berlin vorstellte. In Ost wie West sei Armut nämlich "in der Regel kein Dauerzustand". Die meisten Betroffenen seien eher kurzzeitig mit Armut konfrontiert. "Es gibt eine hohe Fluktuation", sagte Hanesch.

Doch ab wann gilt jemand in der Bundesrepublik als arm? Der Darmstädter Professor für Sozialpolitik definiert Armut so: "Als einkommensarm gelten Bürger, die mit ihre Einkommen unter der Armutsschwelle von 50 Prozent des durchschnittlich verfügbaren bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommens liegen." In Mark und Pfennig sind das für die erste Person in einem westdeutschen Haushalt heute 1038 Mark und - bedarfsgewichtet - für jeden weiteren Erwachsenen 70 und für Kinder 50 Prozent dieses Betrags. In Ostdeutschland liegt der Basissatz bei 855 Mark. Als arm gilt nach dieser Definition also nicht nur jemand, der das zum Überleben Unerlässliche nicht hat, sondern auch der, dem die "Teilhabe an der gesellschaftlichen Normalität" nicht möglich ist.

Zwei Gruppen sind besonders armutsgefährdet: Arbeitslose und ihre Angehörigen sowie Familien mit mehreren Kindern. "Mehrere Kinder zu versorgen wird zum Einkommensproblem, weil der Einkommensbedarf steigt, aber wegen der Kindererziehung eine Vollerwerbstätigkeit beider Elternteile nur schwer möglich ist", sagte Hanesch. Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, berichtete, dass 14,2 Prozent aller Kinder in Deutschland in Einkommensarmut leben. Rund ein Drittel aller Alleinerziehenden mit ihren Kindern gelten als arm. "Hier ist die Politik nach wie vor gefordert, die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern", forderte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer.

Auch bei Arbeitslosen reicht die soziale Absicherung oft nicht aus, um einen Abstieg unter die Armutsgrenze zu verhindern. "Unsere Analysen lassen keineswegs den Schluss zu, dass es Arbeitslosen in der Bundesrepublik zu gut geht", sagte Hanesch und trat damit weit verbreiteten Vorurteilen entgegen. Die Armutsquote liegt bei Arbeitslosen drei Mal so hoch wie für die Gesamtbevölkerung - mit steigender Tendenz. Um das Armutsrisiko zu mindern, forderte Engelen-Kefer Mindestlöhne, die in Tarifverträgen und per Gesetz festgelegt werden. "Flexiblere und kürzere Arbeitszeiten sollten für Frauen und Männer gleichermaßen mit individuell Existenz sichernden Verdiensten einhergehen", erklärte sie.

Fraglich ist jedoch, wie aussagekräftig die Zahlen der Studie sind. Hanesch räumte ein, dass lediglich Einkommen berücksichtigt wurden. Geldvermögen, Haus- und Grundbesitz, sowie Eigentum an Produktivkapital blieben bei der Bewertung der Armut außen vor. "Probleme mit der Datenlage" setzten der Forschung diese Grenzen, meinte Hanesch. Er hofft, dass der für kommendes Jahr angekündigte "Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung diese Datenlücken schließt und damit zu genaueren Angaben über die Armut in der Bundesrepublik kommt. Die jetzt vorgelegte Studie solle "Anstöße geben für die Ausgestaltung" dieses Berichts, sagte Engelen-Kefer.

Altersarmut gibt es der Studie zufolge in Deutschland bislang kaum. Gelten dort 9,1 Prozent der Gesamtbevölkerung als arm, sind es bei den 61- bis 75-Jährigen nur 4,8 Prozent, bei den über 76-Jährigen 3,3 Prozent. Ulrich Schneider warnte aber davor, das Problem Altersarmut durch die geplante Rentenreform, die das Niveau der gesetzlichen Rente deutlich senkt, "politisch zu produzieren". Deswegen appellierte er an CDU und CSU, sich den Plänen von Sozialminister Walter Riester (SPD) für eine soziale Grundsicherung bei der Rente nicht länger zu widersetzen. "Die Widerstände gegen die Grundsicherung für alte Menschen wirken mittlerweile nicht mehr nur zutiefst unsachlich, sondern ebenso kaltherzig", sagte Ulrich. Ob Riester dieses Detail seiner Reform durchsetzt, werde einen "kaum zu überschätzenden, entscheidenden Signal- und Symbolcharakter haben", meinte er.

Der neue Armutsbericht der Hans-Böckler-Stiftung, des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, von Walter Hanesch, Peter Krause und Gerhard Bäcker verfasst, erscheint im November unter dem Titel "Armut und Ungleichheit in Deutschland".

Carsten Germis

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