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Armut hat auch mit Bildungschancen zu tun, und die sind in Deutschland nach wie vor an den sozialen Status der Herkunftsfamilie gekoppelt. Obwohl das auch die OECD seit Jahren moniert, tut sich in dem Punkt nichts.

© picture-alliance/ dpa

Armutsbericht: Nicht um Zahlen streiten! Anpacken!

Die Regierung beharkt sich wegen des Armutsberichts statt die bekannten Ursachen von Armut zu beheben. Dazu gehören Investitionen in Bildung. Auch da rächen sich verrottete Strukturen. Ein Kommentar

Statistiken sind nicht langweilig. Statistiken über die gesellschaftlichen und sozialen Strukturen eines Landes sind in Zahlen geronnene Lebenswirklichkeit. Sie können beruhigend oder entlarvend sein. Deshalb ist es kein Wunder, dass sich das CDU-geführte Bundesfinanzministerium und das SPD-geführte Sozialministerium um die Deutungshoheit über den 5. Armutsbericht der Bundesregierung streiten, denn wer hier die Macht über die Zahlen behält, besitzt auch das Vorrecht der Interpretation.

Wenn es also zurzeit heißt, der Bericht befände sich noch in der Ressortabstimmung, bis er dem Kabinett und dann dem Bundestag vorgelegt werden kann, bedeutet das im Klartext: Das Haus Schäuble malt in Rosa, weil man dort Angst vor finanziellen Begehrlichkeiten hat, und das Haus Nahles sieht schwarz, weil nur dann Geld zur Behebung von Missständen lockergemacht werden kann. Dabei ist der Ansatz schon falsch: Wenn die Debatte über soziale Verwerfungen und fehlende Chancengerechtigkeit damit beginnt, ob man nun endlich die Erbschaftssteuer erhöhen und die Vermögenssteuer wieder einführen oder die Einkommensteuerspitzensätze von vor 25 Jahren erneut in Kraft setzen sollte, verweigert man sich der eigentlichen Anforderung – der Analyse.

Das Etikett Exportweltmeister und die im Vergleich mit vielen anderen Ländern große Stabilität der Bundesrepublik verkleben den Blick auf die Realitäten:

Die Bildungschancen sind ungleich verteilt, seit Jahren

1. Wer in Deutschland arm ist und die Hoffnung aufgegeben hat, wieder aufsteigen zu können, geht nicht mehr wählen, denn er glaubt keiner der etablierten Parteien, dass sie sich um seine Sorgen kümmert. Wahlenthaltung führt aber zur Schwächung der Demokratie und stärkt – siehe AfD bei uns und Trump in den USA – extreme Kräfte, die Heilung durch Handauflegen versprechen. Auch Hitlers Aufstieg begann mit dem Versagen etablierter Parteien und der Verzweiflung von Menschen.

2. Die Bildungschancen sind heute weit ungleicher verteilt als früher. In kaum einem OECD- Land steht es um die soziale Gerechtigkeit so schlecht wie in Deutschland. Die alte Bundesrepublik war ein Staat, in dem jeder, was auch die eigenen Eltern von Beruf und Vermögen waren, in etwa gleiche Aufstiegschancen hatte. Schulen und Universitäten hatten ein gutes Niveau, es gab keine Kaderschmieden der Eliten wie in England oder Frankreich. Bundeskanzler von Kiesinger über Brandt, Schmidt und Kohl bis Schröder kamen aus kleinen Verhältnissen. Heute tragen Kinder aus Arbeiterhaushalten und mit Migrationshintergrund ein hohes Risiko, schon sehr jung den Anschluss zu verlieren, weil der Staat Investitionen in Lehrer, Schulen und Universitäten verschleppte. Wer Geld hat, schickt seine Kinder in private Kindergärten und Schulen, so beginnt die Selektion.

3. Die Arbeitsmarktreformen der Ära Schröder waren notwendig, und sie waren erfolgreich. 70 Prozent der in Teilzeit Beschäftigten hatten vorher keine Arbeit, 20 Prozent waren zuvor Langzeitarbeitslose oder hatten nie eine Beschäftigung. Aber die Lockerungen sind von Unternehmen missbraucht worden. Sie teilten Vollzeitjobs, von denen man leben konnte, in Teilzeitstellen auf, die keine Familie ernähren. Die Befristung von Arbeitsverhältnissen ohne jede kaufmännische Notwendigkeit führte zur Verunsicherung einer ganzen Generation. Wer nicht weiß, ob er in sechs Monaten noch Arbeit hat, heiratet seltener und gründet noch seltener eine Familie. Die demografische Abwärtsentwicklung in Deutschland hat hier eine ihrer Ursachen.

Das Geld, den Mangel zu beheben, ist da

Diese Liste ist nicht vollständig. Aber allen drei dramatischen Fehlentwicklungen liegt das gleiche Versagen zugrunde. Mit unseren Bildungs- und Sozialsystemen ist es ähnlich wie mit Straßen, Autobahnen, Brücken und Schienenwegen. Sie alle bilden ein infrastrukturelles Netz, das unterhalten und ausgebaut werden muss. Geschieht das nicht, entstehen auf Straßen Schlaglöcher, können Brücken nicht mehr belastet und Züge nur noch im Schneckentempo gefahren werden. Durch die Blindheit gegenüber Fehlentwicklungen bei der Bildung und im Sozialen geht eine Generation vielleicht unrettbar verloren. Da hilft dann auch kein in Panik zusammengeschustertes Notprogramm mehr.

Das Geld, die Mängel zu beheben, ist da. Denn was wir heute investieren, zahlt sich aus – weil in wenigen Jahren weniger Sozialausgaben benötigt werden, weil die Menschen mit besserer Bildung und gleichen Chancen mehr verdienen. Aber man muss eben mit der Analyse beginnen. Und jetzt erwarten wir den Armutsbericht.

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