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Arnulf Baring: "Unser Land lebt seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse"

Der Historiker Arnulf Baring spricht mit dem Tagesspiegel über Sozialstaatsparteien, Prioritäten in der Politik und unsere brenzlige Finanzlage.

Herr Baring, ist Guido Westerwelle ein politischer Amokläufer?



Unsinn. Der Mann hat eine ganz wichtige Frage aufgeworfen. Indem man seine Tonlage kritisiert, kann man eine inhaltliche Auseinandersetzung vermeiden.

Westerwelle spricht von „sozialistischer Republik“ und „spätrömischer Dekadenz“. Ist das der richtige politische Weg?

Das weiß ich nicht. Unser Land lebt seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse. Wir haben inzwischen, abgesehen von der FDP, nur noch Sozialstaatsparteien, die die Umverteilung für unser wichtigstes, allein maßgebliches Staatsziel halten. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn wir es uns weiter leisten könnten. Das ist längst nicht mehr der Fall. Also müssen wir gemeinsam unsere Prioritäten überprüfen.

Nochmals: Ist Westerwelles Weg der richtige, um das zu ändern?

Es ist ja noch gar kein Weg, nur die Beschreibung eines Debakels. Auch die FDP traut sich bisher nicht zu sagen, wo sie Gelder streichen will, die sie für Steuersenkungen bräuchte. Niemand wagt sich an dieses Thema. Unter vier Augen berichten Politiker von ihrer Schwierigkeit, den Landsleuten unsere brenzlige Finanzlage nahezubringen. So erzählte mir ein Ministerpräsident von einer Versammlung, in der ihn eine berufstätige Mutter dafür kritisierte, dass sie für den Kitaplatz ihrer Tochter 200 Euro zahlen müsse. Als er fragte, ob sie wisse, was der koste, meinte sie: ihre 200 Euro. Sie war verblüfft über seinen Hinweis, er koste 1200 Euro! Es gibt viele Beispiele, dass unsere Bevölkerung sich nicht bewusst ist, in welchem Umfange unser Lebensstandard öffentlich subventioniert wird.

Was folgt daraus?

Wenn der Staat seine Ausgaben nicht überprüft, den Sozialstaat nicht reformiert, wird er nicht die Mittel bereitstellen können, die erforderlich sind, um die Zukunft zu meistern, die jungen Generationen, gerade auch die Zuwanderer, auszubilden.

Brauchen wir denn, wie Westerwelle sagt, eine Neudefinition des Sozialstaats?

Unbedingt. Niemand kann permanent mehr ausgeben, als er einnimmt. Wir müssen unbefangen über unsere Prioritäten nachdenken. Wenn man der FDP jetzt vorwirft, sie sei konservativ oder populistisch, dann ist das Unsinn. Nicht die FDP, sondern zahlreiche Deutsche sind stockkonservativ in dem Sinne, dass sie unbedingt den bestehenden, unmäßigen Sozialstaat verteidigen wollen. Alle Sozialpolitiker machen sich immer nur Gedanken über zunehmende Umverteilungen. Wenn man sie fragt, woher das Geld dafür kommen soll, halten sie sich nicht für zuständig.

Die FDP will den Sozialstaat „treffsicherer“ machen. Wo müsste das geschehen?

Man müsste sich auf einen Grundsatz besinnen: Jeder, der aus öffentlichen Kassen unterstützt wird, müsste auf eine angemessene Gegenleistung, einen Dienst an der Gesellschaft, die ihn versorgt, verpflichtet werden. Ausnahmen müssten gelten für Alte, Kranke, Mütter kleiner Kinder. Dieser Grundgedanke sozialer Gerechtigkeit ist doch an sich selbstverständlich. Er ist nur in Vergessenheit geraten.

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