zum Hauptinhalt

Asylbewerber in einem bayrischen Dorf: Kein schöner Land

Das Dorf Schöllnstein ist die Heimat von siebzig Bayern – und neunzig Asylbewerbern. Miteinander geredet wird nicht. Man wünscht, die Fremden würden verschwinden aus einem Idyll, in dem die ohnehin nicht leben wollen.

Als Taifur al Khatib Mitte Februar in Schöllnstein aus dem Bus steigt, denkt er, „das ist eine Katastrophe“. Er sieht sich um. Kein Mensch ist in dem kleinen Ort unterwegs, nur ein Hund läuft die Hauptstraße entlang. Sein erster Gedanke ist: „Hier gibt es nur Tiere, keine Menschen.“ Der 33-jährige Palästinenser ist in dem Ort angekommen, in dem er seitdem lebt – und vermutlich noch einige Zeit leben wird.

Denn in Schöllnstein steht eines von 17 Asylbewerberheimen in Niederbayern, im Februar wurde al Khatib aus Landshut hierher gebracht, dort hat er vorher gewohnt. Der Dorfpfarrer sagt, das Dorf sei das bayerische Lampedusa. Er meint, der Ort werde von Immigranten überschwemmt.

Schöllnstein ist die Heimat von 71 Bayern, viele alte Menschen sind darunter, Bauern, ein paar Familien mit Kindern. Einige von ihnen sind hierher gezogen wegen der Ruhe und weil die Häuser günstig sind. Auf einer Anhöhe des Ortes steht das Asylbewerberheim, ein Bau aus den 60er Jahren, weiß gestrichen, dunkelbraune Holzbalkone.

Darunter verteilen sich die 52 Schöllnsteiner Häuser, in einigen wohnt niemand. In der Mitte des Ortes steht ein Kriegerdenkmal, liebevoll bepflanzt, hinter dem Dorf liegt ein Wald. Geht man ein paar Schritte auf der Hauptstraße, hat man den Ort schon wieder verlassen. Bis zum nächsten Supermarkt sind es sechs Kilometer. Geschäfte oder Lokale gibt es nicht, auch keinen Arzt und keine Schule. Das letzte Gasthaus von Schöllnstein ist vor vielen Jahren abgebrannt. Jetzt treffen sich ein paar Dorfbewohner zwei Mal im Monat in den Räumen der Freiwilligen Feuerwehr auf ein Bier.

Die Internetverbindung in Schöllnstein ist so langsam, dass die Dorfbewohner sagen: Bis sich eine Webseite aufgebaut hat, kann man sich ein Bier holen, es einschenken und austrinken. Im Asylbewerberheim haben sie gar keinen Zugang zum Internet.

Es gibt wohl kaum einen Ort in Deutschland, an dem man weniger tun kann als in Schöllnstein. Und nun leben seit vergangenem Juli hier nicht mehr nur die Bayern, die kamen weil sie die Ruhe suchten, sondern auch noch rund neunzig Menschen aus der ganzen Welt.

Laut deutschem Asylgesetz ist Schöllnstein der ideale Ort für eine Flüchtlingsunterkunft. Dort heißt es: „Die Verteilung der Asylbewerber soll die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern.“ Das bedeutet, dass die Menschen nicht integriert werden sollen, solange sie keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung haben. Doch die Regierung von Niederbayern ist trotzdem mit der Situation nicht zufrieden. „Für Schöllnstein haben wir uns in einer Notlage entschieden“, sagt Michael Bragulla, der Regierungssprecher. „Im vergangenen Sommer waren plötzlich besonders viele Asylbewerber da und wir mussten viele Leute schnell unterbringen.“

Flüchtlinge werden in Deutschland nach dem sogenannten Königssteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Der Schlüssel regelt, wie die Ausgaben der Bundesrepublik auf die Länder aufgeteilt werden, berechnet wird dies nach Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl, damit die finanzielle Last gerecht gestreut ist. Auch innerhalb der Bundesländer werden die Asylbewerber nach einem ähnlichen Muster untergebracht. Wo in den einzelnen Regierungsbezirken dann allerdings die Unterkünfte für die Asylbewerber stehen, ist der jeweiligen Verwaltung überlassen.

Meist richtet sich die Aufteilung nach praktischen Gründen. Es gibt zum Beispiel nur wenige Hauseigentümer, die ihre Gebäude als Unterkünfte für Asylbewerber an die Regierung vermieten. Der Besitzer des Heims in Schöllnstein, in dem jetzt Taifur al Khatib lebt, gehört dazu. Er suchte schon lange nach einem Mieter. Das Gebäude hatte er vor vielen Jahren als Investition gekauft, er selbst wohnt in München. Früher war das Haus am Berg ein Gasthaus mit Ferienwohnungen. Doch irgendwann blieben die Urlauber aus. Ende der 80er Jahre wurden Flüchtlinge aus der DDR untergebracht, Anfang der 90er Jahre Spätaussiedler aus der Sowjetunion. Dann stand es bis vergangenen Sommer leer.

Die Situation der Asylbewerber in Schöllnstein sei zwar ein extremes Beispiel, sagt der Regierungssprecher, aber kein Einzelfall: Niederbayern sei eben ein sehr ländlicher Regierungsbezirk. In den Städten gebe es kaum Platz. „Die Asylbewerber leben bei uns eben so wie die meisten Niederbayern auch, in kleinen Orten.“

Als im Juli 2010 die ersten Asylbewerber nach Schöllnstein kamen, veränderte sich das Leben der Dorfbewohner. „Die Ruhe ist seitdem weg“, sagt Florian Mittag. Vor einigen Jahren ist der 35-Jährige mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn nach Schöllnstein gezogen. Er arbeitet bei BMW als Polsterer – und auch er kam genau der Ruhe wegen. Nun sagt er: „Früher haben wir die Haustüre nie abgeschlossen, meine Frau ist im Sommer im Bikini auf der Terrasse gelegen. Damit ist es vorbei.“

Erst am Tag bevor die Asylbewerber kamen, hatte Alois Zellner von der CSU, Bürgermeister der Gemeinde Iggensbach, zu der Schöllnstein gehört, den Bewohnern gesagt, dass das Haus am Berg ein Asylbewerberheim werden würde. Da hatten die Schöllnsteiner von entsprechenden Plänen allerdings schon aus der Zeitung erfahren. In einem Artikel stand, die ersten hundert Asylbewerber, die aus Landshut nach Schöllnstein umquartiert werden sollten, hätten sich geweigert, in den Bus zu steigen. Sie hätten gehört, dass das Dorf abgeschieden liege, dort nichts los sei, man nicht mal wegkäme. Dabei versuchten die Behörden noch zu beschwichtigen, erklärten zunächst, die Flüchtlinge sollten nur vorübergehend in den Ort mitten im Bayerischen Wald ziehen. Doch auch für kurze Zeit wollte niemand so abgeschieden leben. Ein Asylbewerber diktierte einem Journalisten, nur über seine Leiche werde er in diesen Bus steigen. Der fuhr zunächst wieder ab – leer.

Doch die Asylbewerber hatten langfristig keine Wahl. Vierzig von ihnen wurden nach Schöllnstein gebracht. Nach kurzer Zeit kamen mehr – und jetzt sind es fast neunzig. Die niederbayerische Regierung verkündete: Es sollen noch mehr werden.

Als die ersten Zeitungsartikel über die neuen Bewohner von Schöllnstein erschienen, las Florian Mittag, dass die Asylbewerber sein schönes ruhiges Dorf ziemlich blöd fanden. „Schöllnstein is a bad, bad place“, sagte einer. Das ärgerte ihn. „Die wissen doch gar nichts von unserem Ort“, sagt Mittag.

Er sitzt am Küchentisch seines Hauses, das er gemeinsam mit seiner Frau liebevoll renoviert hat. Jede freie Minute arbeitet er daran. Jetzt muss er aber gleich los zur Spätschicht. In Schöllnstein führt er genau das Leben, das er sich immer vorgestellt hat. Nur die Asylbewerber fehlten in seinem Bild. Mit denen hat er bisher kaum gesprochen, nur ein paar Mal gegrüßt. Tatsächlich ist die Kommunikation zwischen den Dorfbewohnern und den Asylanten schwierig: „Von den einundsiebzig Einwohnern in Schöllnstein können vielleicht fünf Englisch“, sagt Mittag. Von den neunzig Asylbewerbern sprechen etwa fünf Deutsch, al Khatib gehört dazu.

Er führt nicht das Leben, das er sich vorgestellt hat. Seit vier Jahren lebt er nun als Asylbewerber in Deutschland, aufgewachsen ist er in einem kleinen Ort in Gaza. Lieber wäre er bei seiner Familie in Palästina, vielleicht längst mit Frau und Kindern. Doch dort wurde ihm die Lage zu unsicher und generell fühlt er sich schon wohl in Deutschland. „Hier ist kein Krieg“, sagt er.

Bisher lebte al Khatib in Asylbewerberheimen in München und Landshut. „Aber Schöllnstein ist anders“, sagt er und blickt vom Balkon des Zimmers, das er sich mit drei Männern teilt, auf die Häuser von Schöllnstein. „Kein Mensch redet hier mit mir.“ Sein Blick wandert verzweifelt von einem Haus zum anderen. „Ich brauche einen Freund oder eine Freundin“, sagt er. Auch im Asylbewerberheim kann er sich kaum mit den anderen verständigen. Nur zwei Bewohner sprechen Arabisch, und die meisten Nationalitäten bleiben ohnehin unter sich.

In Landshut hatte Taifur al Khatib eine Freundin, sie kam aus China. Jeden Tag besuchte er sie. Seitdem er in Schöllnstein lebt, hat er sie ein einziges Mal gesehen. Der öffentliche Bus nach Deggendorf kostet 5,50 Euro, das Zugticket nach Landshut 21 Euro, das macht für Hin- und Rückfahrt 53 Euro. Als Asylbewerber bekommt er nur 40 Euro bar im Monat. Weil er kurz nach seiner Ankunft in Deutschland gegen die Residenzpflicht verstieß und den Landkreis München, in dem er untergebracht war, verließ, muss er außerdem eine Strafe abbezahlen, fünf Euro im Monat. Trotzdem fuhr al Khatib einmal nach Landshut zu seiner Freundin. Doch die Beziehung hielt die Entfernung nicht aus. „Zuerst habe ich mein Taschengeld verloren und dann meine Freundin“, sagt er. Sein erster Eindruck hat sich bestätigt: „Schöllnstein ist eine Katastrophe.“

Die meisten Asylbewerber im Ort fühlen sich wie Taifur al Khatib. „Wir leben wie im Gefängnis“, sagt Mohamed Ali Mahdi, 21, der aus Somalia floh wegen des Bürgerkriegs. „Hier gibt es nichts, keine Verkehrsanbindungen, keinen Supermarkt, kein Internet.“ Am schlimmsten findet er, dass es keinen Internetzugang und kein öffentliches Telefon gibt. „Ich will jeden Tag mit meiner Familie sprechen, um zu wissen, wie es ihnen geht. Somalia ist gefährlich“, sagt Mahdi. „Manchmal wache ich nachts auf und kann nicht einschlafen, weil ich mir Sorgen um meine Eltern und meine Geschwister mache.“

Auch er hat sich sein Leben anders vorgestellt. Er wollte die Schule fertig machen – er hatte gute Noten – und dann studieren, am liebsten Ingenieurwesen. Doch jetzt sitzt er seit fast einem Jahr nur herum. Eine Mitarbeiterin der Caritas habe ihm zwar erklärt, dass er nach einem Jahr Aufenthalt in Deutschland eine Ausbildung machen dürfe. Aber erst müsse er Deutsch lernen. Und wie soll er zu der Abendschule in Deggendorf kommen? Die öffentlichen Busse fahren nur frühmorgens. Jeden Mittwoch um acht Uhr morgens gibt es zusätzlich einen Bus, mit dem die Asylbewerber umsonst nach Deggendorf fahren können.

Um halb acht morgens ist die Straße vor der Bushaltestelle in Schöllnstein voller Menschen, sie kommen aus Somalia, Iran, Irak, aus Mazedonien und Serbien. Sie sind früh dran, weil sie den Bus in keinem Fall verpassen wollen. Es ist der wichtigste Moment in der Woche. Auch Taifur al Khatib wartet. Er sagt: „Wenn ich in Deggendorf auf dem Hauptplatz entlanggehe und viele Menschen sehe, dann geht es mir gleich viel besser.“ Wie jede Woche will er in der Stadt Arbeit suchen und im Internetcafé seine Familie anrufen. Wenn die Asylbewerber ein Jahr in Deutschland sind, dürfen sie als Ein-Euro-Jobber arbeiten. Bisher hat al Khatib aber noch nichts gefunden. An diesem Tag muss er außerdem zum Arzt. Sechs Stunden hat er Zeit, um alles zu erledigen, denn um drei Uhr fährt der Bus zurück. Manchmal schafft er es nicht ins Internetcafé.

„Ein paar Mal habe ich versucht, mit den Menschen hier in Schöllnstein zu reden. Mir ist das wichtig, wir Somalier sind gesellig“, sagt Mohamed Ali Mahdi. „Aber ich kann kein Deutsch und die Menschen hier können kein Englisch.“ Sehr gerne würde er die Sprache lernen.

Am Anfang ist auch Taifur al Khatib regelmäßig hinunter vom Berg und ins Dorf gegangen. Er hoffte, dort Menschen zu finden, die mit ihm reden. Meistens war aber niemand unterwegs, oder die Schöllnsteiner schauten weg, wenn er auf sie zuging. „Viele von uns können mit der Kultur der Asylbewerber nichts anfangen“, meint Florian Mittag. „Die meisten waren noch nie im Ausland.“ Und Regierungssprecher Michael Bragulla sagt: „Es wäre uns recht, wenn wir die Unterkunft so schnell wie möglich wieder zumachen könnten, aber momentan sieht es nicht so aus.“

Asylbewerber und Niederbayern werden in Schöllnstein noch einige Zeit zusammenleben. Und inzwischen wächst das Interesse am Dorf. Auch in der Politik. Vor einigen Tagen reiste Kornelia Möller an, Bundestagsabgeordnete der Linken. Zurück in Berlin erzählte sie von „entsetzlichen Zuständen“, von einer nicht angemessen versorgten Hochschwangeren etwa, und einem Kranken mit Verdacht auf Tuberkulose. Die niederbayerische Regierung wies die Vorwürfe von sich.

Kurz bevor Florian Mittag zur Spätschicht geht, sagt er noch: „Vielleicht brauchen wir einfach Zeit. Wenn die Menschen länger bei uns bleiben, gewöhnen wir uns wahrscheinlich auch irgendwann aneinander.“

Als Taifur al Khatib am Nachmittag aus Deggendorf zurück nach Schöllnstein kommt, kocht er Reis mit Huhn und Gemüse. Dann setzt er sich vor den Fernseher, wo er an den übrigen Wochentagen fast jede Minute verbringt. Er denkt: „Wenn ich noch zwei Monate länger hier bleiben muss, werde ich verrückt.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false