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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt sich beim Sommerinterview von den Journalisten Tina Hassel und Rainald Becker am 19.07.2015 im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin interviewen.

© dpa

Asylsuchende: Herzlich unwillkommen, ihr Flüchtlinge

Nur mit einem differenzierten Quotensystem für Flüchtlinge kann verhindert werden, dass die Freizügigkeit in Europa wieder eingeschränkt wird. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

War es nur ein simpler Versprecher oder eine Freud’sche Fehlreaktion? Als Angela Merkel im Sommerinterview der ARD auf die Flüchtlingsproblematik in der Europäischen Union angesprochen wurde, begann ihre spontane Antwort so: „Dieses Schengen-Abkommen entspricht nicht mehr ...“ Dann hielt sie inne und rief sich quasi selbst zur Ordnung: „Nein! Falsch!“, sagte sie entschlossen, und fuhr dann so fort: „Das Dublin-Abkommen entspricht nicht mehr den Gegebenheiten, wie wir sie mal hatten, ... und wenn wir nicht zu einer anderen Lastenverteilung kommen, wird das Schengenabkommen, das die Freizügigkeit garantiert, keinen Bestand haben, und das müssen wir retten.“

Zwei europäische Abkommen verschiedenen Inhalts, zwischen denen doch ein innerer, unauflösbarer Zusammenhang besteht. Mit dem Schengen-Vertrag von 1985, einer Übereinkunft aus der Zeit eines geteilten Kontinents, wurden die Grenzkontrollen im Raum der Europäischen Gemeinschaft abgeschafft und die Freizügigkeit der Personen hergestellt. Zu „Schengen“ bekennen sich heute alle EU-Staaten bis auf Großbritannien und Irland, zudem Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein. Das Dublin-Verfahren von 1990, das mehrfach, zuletzt 2013, ergänzt wurde, legt fest, dass Asylgesuche in jenem Land bearbeitet werden müssen, in dem der Asylsuchende europäischen Boden betrat.

Die Schengen-Regeln können zweitweise außer Kraft gesetzt werden

Ohne Schengen bräuchte man Dublin nicht: Gäbe es noch Grenzkontrollen, käme kein Flüchtling über die Landesgrenzen jener mediterranen Staaten hinaus, in denen er, in der Regel ja über das Meer, in Europa landet. Und tatsächlich, da lag die Bundeskanzlerin mit ihrem Versprecher völlig richtig, gibt es inzwischen eine ganze Reihe von EU-Staaten, die die Regeln von Schengen gerne außer Kraft setzen würden. In erster Linie, um sich mit Asylsuchenden nicht beschäftigen zu müssen. Natürlich nützen auch Kriminelle die Freizügigkeit, um zwischen Tatorten und Rückzugsräumen ungehindert zu wechseln oder Diebesgut zu verkaufen. Und natürlich erleichtert das Fehlen von Grenzkontrollen Terroristen ihre Bluttaten. Deshalb können die Schengen-Regeln zeitweise außer Kraft gesetzt werden, wie es gerade anlässlich des G-7-Gipfels in Bayern geschah.

Dennoch wäre ein dauerhafter Rückfall auf die Vor-Schengen-Verhältnisse ein empfindlicher Verlust an europäischer Freizügigkeit, den niemand will, der noch in Erinnerung hat, wie beschwerlich das Reisen in Zeiten der Pass- und Warenkontrollen sein konnte. Tatsächlich schätzt Angela Merkel die Situation jedoch richtig ein, wenn sie fürchtet, dass ohne Reform des Dublin-Verfahrens das Schengen-Modell akut gefährdet ist.

Das Problem kann nur über ein differenziertes Quotensystem gelöst werden. Dagegen sträuben sich viele Staaten, auch, weil sie sich durch hohe Arbeitslosigkeit und geringere Sozialstandards von noch mehr Flüchtlingen überfordert wähnen. Deutschland mit seiner schlechten demografischen Perspektive oder skandinavischen Staaten sollte das leichter fallen. Die Unterschiede zeigen, dass ein spezielles Einwanderungsrecht für uns sinnvoller ist als für Südeuropa. Wer das will, darf sich aber um die Kriterien nicht herumdrücken, denn Einwanderungsregeln haben immer auch selektiven Charakter. Genau gegen den wehren sich viele politische Gruppierungen, die ein Recht auf Migration propagieren.

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