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Arbeiter in Schutzkleidung vor riesigen tonnenartigen Tanks

© AFP

Exklusiv

Atomkatastrophe in Japan: Atomkatastrophe in Japan: „Tepco betreibt Flickschusterei“

Der Atomexperte Mycle Schneider fordert eine internationale Task Force für den havarierten Atomreaktor in Fukushima. Denn die Betreiberfirma ist schon seit dem ersten Tag der Atomkrise mit deren Bewältigung sichtlich überfordert.

Es kommen alarmierende Meldungen aus Fukushima. Nach einem schweren Leck in der Atomruine Fukushima haben die Reparaturtrupps nun an Tanks mit Kühlwasser weitere Spuren mit einer tödlichen Dosis Radioaktivität entdeckt. Wie ist die Situation in den havarierten Reaktorblöcken?
Genau kann das niemand sagen. Die Radioaktivität in den Gebäuden ist tödlich und erlaubt keine Inspektion. Roboter bleiben im Schutt stecken, manche sind nicht wieder herausgekommen und Kameras haben sich als schwer dirigierbar erwiesen. Ein Problem besteht darin, dass die dicken Betonwände eine Fernsteuerung fast unmöglich machen. Wir dürfen also weiterhin spekulieren. Ziemlich sicher ist: Der Brennstoff ist durch die Reaktorbehälter geschmolzen und in den Beton eingedrungen.

Die geschmolzenen Kerne müssen weiter gekühlt werden. Funktioniert das?
Die Betreiberfirma Tepco pumpt jeden Tag etwa 400 Tonnen Wasser in die Ruinen, aus denen große Mengen Radioaktivität ausgeschwemmt werden und in die Kellerräume gelangen. Das Wasser vermischt sich dort mit weiterem belasteten Wasser. Aus diesem Gemisch pumpt Tepco täglich wieder die notwendige Menge durch eine Dekontaminierungsanlage und in die Reaktoren. Außerdem lagern etwa 300 000 Tonnen hochradioaktives Wasser in etwa tausend Tanks. Viele dieser Behälter sind zusammengeschraubt und taugen nicht für die jahrelange Lagerung radioaktiver Flüssigkeit. Leckagen sind quasi obligatorisch.

 Mycle Schneider ist Energie- und Atomexperte. Mit Kollegen gibt er jährlich den „World Nuclear Industry Status Report“ heraus. 1997 bekam er den Alternativen Nobelpreis verliehen.
Mycle Schneider ist Energie- und Atomexperte. Mit Kollegen gibt er jährlich den „World Nuclear Industry Status Report“ heraus. 1997 bekam er den Alternativen Nobelpreis verliehen.

© Serge Ollivier

Was hat es mit dem Leck auf sich, durch das mindestens 300 Tonnen radioaktives Wasser in den Pazifik geflossen sein sollen?
Die 300 Tonnen sind aus einem 1000-Tonnen-Tank in den Boden gesickert. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil ins Meer gelangt ist. Doch das ist zweifellos nur die Spitze des Eisbergs. Es scheint sicher, dass kontinuierlich radioaktives Wasser ins Grund- und Meerwasser gelangt ist.

Die japanische Regierung hat das Tankleck als Störfall der Stufe 3 gemeldet. Was bedeutet das?
Die Internationale Atomenergie-Organisation nutzt eine von Frankreich entwickelte Ereignisskala namens Ines, die ausschließlich der Kommunikation dient und von 0 bis 7 reicht. Stufe 3 ist demnach ein ernster Zwischenfall, Stufe 7 waren Tschernobyl und Fukushima. Doch die Skala sagt nichts über das Gefahrenpotenzial einer Situation aus. Man kann haarscharf an einer Katastrophe vorbeischrammen und es bleibt bei 2.

Im Boden unter den durch geschmolzenen Reaktoren sammelt sich Grundwasser, das sich ebenfalls Richtung Meer bewegt …
Unter dem Standort Fukushima fließt ein unterirdischer Fluss, der etwa 1000 Tonnen Wasser pro Tag Richtung Meer schickt. Davon dringen jeden Tag geschätzte 400 Tonnen in die Keller ein, werden dort kontaminiert und verdoppeln damit praktisch die Menge, die aus den Reaktoren einfließt. Dies ist der Grund, warum sich die Gesamtmenge rasant weiter erhöht und bis 2015 etwa 600 000 Tonnen umfassen soll.

Um den Fluss zu stoppen, will Tepco die Erde einfrieren. Hat das Sinn?
Die Vereisung des Grundwassers wäre ein weiteres störanfälliges Provisorium, würde erhebliche Mengen Strom verbrauchen und wäre bei jedem Stromausfall – der ja schon von Ratten verursacht wurde – außer Funktion. Um von solcher Flickschusterei zu solideren Lösungsansätzen zu gelangen, habe ich die Gründung einer Internationalen Task Force Fukushima vorgeschlagen.

Was soll die leisten?
Ich denke an etwa ein Dutzend internationale Experten, die Japan permanent bei der Stabilisierung der Anlage, beim Strahlenschutz und der Lebensmittelsicherheit beraten sollen. Die Task Force sollte zunächst für zwei Jahre bestellt werden. Sie könnte zu verschiedenen Fragen jeweils Experten hinzuziehen, die dann kurz-, mittel- und langfristige Empfehlungen geben.

Gibt es seriöse Schätzungen über die langfristigen Folgen des Unfalls?
Meiner Kenntnis nach nicht. Solche Schätzungen werden aufgrund von Berechnungen des Quellterms, also der Menge freigesetzter Radioaktivität, und der Dosis für bestimmte Bevölkerungsgruppen vorgenommen. Aber mindestens in den ersten zwei Monaten wurden keine individuellen Dosimeter an die Arbeiter vor Ort ausgegeben. Ein Verhalten, das man nur als kriminell bezeichnen kann. Da die Dosisleistung an einem havarierten Atomkraftwerk in wenigen Metern Abstand um mehrere Größenordnungen schwanken kann, weiß niemand, welche individuelle Dosis jeder Arbeiter erhalten hat. Damit stehen alle Aussagen zu möglichen Gesundheitsfolgen für Arbeiter auf wackeligen Füßen. Die Entdeckung der durchgängigen Kontaminierung des Meerwassers dürfte ebenfalls alle bisher gemachten Schätzungen ad absurdum führen. Leider dürfen wir uns auf weitere Überraschungen gefasst machen.

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