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Atomkraftwerk in Neckarwestheim: Nach dem Abschalten geht die Arbeit erst richtig los

Auf Stadtansichten von Neckarwestheim kommt das riesige Kernkraftwerk nicht vor. Es ist wenig werbewirksam für ein Weinbau- und Erholungsgebiet, brachte aber Geld in die Region. Jetzt wird einer von zwei Blöcken abgestellt.

Es könnte sein, dass er die grüne Wiese noch erlebt. Jetzt stehen dort, wo sie einmal sein könnte, große, weiße Gebäude mit runder Kuppel, einem Schornstein, der 154 Meter in den Himmel ragt, und mehreren immerfort dampfenden Kesseln. „In 15 Jahren kann man so eine Anlage“, sagt Eberhard Grauf, „zur grünen Wiese machen.“ Grauf ist knapp über 60, er rechnet sich Chancen aus.

Von 1972 an war Grauf im Atomkraftwerk Neckarwestheim nahe Heilbronn beschäftigt. Die Bauarbeiten hatten im Januar desselben Jahres begonnen. „Ich bin mit der Anlage groß geworden“, sagt der Schwabe über sein Lebenswerk, das noch heute, nach 34 Betriebsjahren, „wie g’schleckt“ aussehe. Die Fußböden glänzen, die Wände sind makellos gestrichen und auch der Leitstand von Siemens, von dem aus zwei Techniker die Abläufe an Bildschirmen beobachten, hat nicht die antiquierten Hebel und Schaltknöpfe amerikanischer Baureihen. Aber Grauf weiß auch, dass es darauf nicht ankommt, lange war er für die Sicherheit verantwortlich.

„Die eigentlichen Gefahren sieht man von außen nicht“, sagt Grauf. Die verbergen sich hinter Zahlenkolonnen und haben jetzt dazu geführt, dass der zweitälteste Kernreaktor in Deutschland endgültig vom Netz genommen wird. Die Entscheidung kam überstürzt. Sie wurde gleich doppelt verkündet. Von Ministerpräsident Stefan Mappus, der sie mit Deutschlands Wende in der Atompolitik erklärte, und von der Betreibergesellschaft EnBW, für die eine Nachrüstung der in den sechziger Jahren konzipierten Apparatur zu kostspielig ist. Bislang waren die beiden Blöcke Neckarwestheim I und II für fast ein Drittel der baden-württembergischen Stromerzeugung verantwortlich.

Die grüne Wiese, die hatten sie hier früher. Landwirtschaft und Weinbau nährten die Menschen in der lieblichen Region über die Jahrhunderte. Ein Beobachter von 1853 berichtete über die Einwohner, sie seien von guter Gesundheit, stürben meist „an Nachlass der Natur“, und könnten sich, wenn sie ein wenig sparsamer wären, „in besseren ökonomischen Verhältnissen befinden“.

Wer nicht Landwirt oder Winzer war, konnte lange Zeit im Steinbruch einer Zementfabrik arbeiten, auf deren Gelände nach der Schließung in den 70er Jahren das Atomkraftwerk errichtet wurde. Das brachte Streit in den Ort, aber auch viel Geld und allerlei Annehmlichkeiten. Bis heute gibt es beispielsweise einen Shuttleservice, der die Neckarwestheimer im Winter zu ausgewählten Hallenbädern bringt, Freibäder sind während der Sommersaison gratis.

Eine Frau, die ein kleines Bäckergeschäft betreibt, sagt, dass sie nach ihrer Heirat vor 32 Jahren hierhergezogen sei. Als das Kraftwerk schon stand. „Ich kenne es nicht anders.“ Deswegen wohl, sagt sie, „stehen wir hier auch nicht jeden Morgen auf und denken: ‚Oh Gott, hoffentlich geht das Ding nicht hoch heute.“ Da würde man ja verrückt werden. Trotzdem sagt sie dann noch: „Natürlich wäre es einem lieber, wenn es nicht da wäre.“ Man ist hier ebenso gefangen in der Annehmlichkeit, die der billige Strom bringt, wie andernorts. „Die Leute“, sagt die Frau, „die letzte Woche zur großen Menschenkette hierherkamen, haben dafür ja auch Strom gebraucht.“

Auf Schloss Liebenstein, das auf einer Anhöhe mit Blick auf das Kraftwerk in der Senke darunter liegt, trifft man Mario Dürr, den Bürgermeister von Neckarwestheim, der 1996 das Amt übernahm, als der Ort ein einziges Mal nicht wegen seines Kraftwerks bekannt war. Damals kam heraus, dass sein Vorgänger 40 Millionen Mark aus der Gemeindekasse veruntreut hatte. Damals wunderte man sich auch darüber, woher überhaupt so viel Geld in eine so kleine Gemeinde kam.

Dürr ist ein Mann von Anfang 50 in grauem Anzug, mittelgroße Statur, Schnauzbart. Der zu Beginn des Gesprächs zunächst betont, dass er sehr betroffen sei von der Katastrophe in Japan. Und dann auf die wirtschaftliche Bedeutung des Kernkraftwerkes für seine Gemeinde zu sprechen kommt.

Rund zwei Drittel der sieben Millionen Euro an Gewerbesteuern spülte der Stromkonzern EnBW in die Gemeindekasse. Mit 800 Mitarbeitern in beiden Blöcken, rund 300 davon in Neckarwestheim I, ist EnBW auch mit Abstand größter Arbeitgeber in der Gemeinde mit 3500 Einwohnern. Die hatte nach Angaben der „Heilbronner Stimme“ von 2006 etwa 60 Millionen Euro auf der hohen Kante. Zusätzlich unterstützt der Akw- Betreiber die lokalen Vereine. Gerade entsteht eine neue Sporthalle.

Aber nur allein wegen der wirtschaftlichen Bedeutung wolle er das nicht sagen, meint Dürr. Nämlich, „dass es nicht getan ist damit, abzuschalten und fertig“. Denn wenn der Eindruck Japans einmal verblasst sei, „dann wird für viele auch wieder der Preis des Stroms eine Rolle spielen“. Und dann spätestens würden viele klagen darüber, wenn er infolge von massenhaften Abschaltungen deutscher Atomkraftwerke in die Höhe schnellen würde.

Ob sich dann jeder vor allem Sorgen mache darüber, woher der Strom kommt, da hat der Bürgermeister Zweifel. „Wobei ich da bei uns in Neckarwestheim vielleicht nicht direkt für ganz Deutschland sprechen kann.“

Der Mann dreht seine Handflächen jetzt nach oben: „Am Standort eines Atomkraftwerkes geht man mit diesem Thema eher etwas emotionsloser um.“ In Neckarwestheim sei das allein schon deshalb so, weil fast 300 Menschen, die direkt im Werk arbeiten, auch im Ort wohnten. „Die wissen, wie es dort unten aussieht, sodass wir bei uns einen ganz anderen Informationsstand haben.“ Ein gewisses Verständnis, sagt der Bürgermeister, habe er auch für Menschen, die diesen Stand nicht hätten.

Tatsächlich zählt Neckarwestheim I unter den Altmeilern zu den störanfälligsten. Ganz zu Beginn, als der Reaktor 1976 zum ersten Mal angefahren wurde, wich heißer, jedoch nicht radioaktiver Dampf ins Freie. Bis 2009 kam es zu 419 Vorfällen, die der Atomaufsichtsbehörde gemeldet werden mussten. Das ist statistisch mehr als jeden Monat einer. Wobei die meisten in der Anfangsphase auftraten und zum Teil auf massive Fehler der Bedienmannschaften zurückgingen. 39 Mal musste der Reaktor sehr schnell abgeschaltet werden.

Als der Betreiber EnBW versuchte, die 2009 auslaufende Betriebsgenehmigung des Altreaktors zu verlängern durch eine Übertragung der Stromkontingente des jüngeren Nachbarreaktors – der war erst 1989 ans Netz gegangen –, stellten die Prüfer 23 sicherheitsrelevante Mängel fest. Sigmar Gabriel lehnte den Antrag als Bundesumweltminister ab. Dabei hatte der Betreiber selbst angeboten, eine neue, separate Halle für Dieselgeneratoren zu bauen, mit denen ein möglicher Stromausfall aufgefangen werden sollte. Die wurde dann nicht mehr gebraucht, die Abschaltung von Neckarwestheim I durch die Große Koalition schien beschlossene Sache. Erst die Laufzeitverlängerung brachte Neckarwestheim eine neue Perspektive.

Zuvor war die Stromerzeugung in dem 840-Megawatt-Reaktor massiv gedrosselt worden, um sich bis zur Bundestagswahl über die Zeit zu retten mit der immer kleiner werdenden Reststrommenge. Die Rechnung ging auf. Das neue Atomgesetz der schwarz-gelben Regierung vom Herbst letzten Jahres bescherte Neckarwestheim weitere acht Jahre. Und plötzlich war auch die Generatorenhalle nicht mehr nötig, die EnBW zuvor selbst zur Bedingung eines sicheren Weiterbetriebs gemacht hatte.

Von nun an geht es nur noch um den Rückbau, von nun an kostet die Anlage Geld, statt es einzubringen. Es wird ein paar Jahre dauern, um die Brennstäbe herunterzukühlen, so lange wird der Betrieb voll aufrecht erhalten. Dann der Abriss vorbereitet, die Geräte, Pumpen, Turbinen demontiert. Und auch der Uferweg entlang des Neckars wäre später für Wanderer wieder begehbar, ohne dass Sicherheitspersonal neben einem herginge.

Das Kraftwerk stellt unsichtbare Energie her, und auch die Gefahr, die im Störfall droht, die radioaktive Verstrahlung, ist nicht zu sehen – doch ganz anders das Werk selbst. Ein optischer Störfall war es schon immer mit seinen aus der Landschaft ragenden Maschinenhallen und Türmen, und wenig werbewirksam für ein Weinbau- und Erholungsgebiet. Auf offiziellen Stadtansichten aus Neckarwestheim kommt es also nicht vor, auf den Fotos vom lokalen Golfplatz und dem Schlosshotel auch nicht, als könnte man es herausschneiden aus dem Leben.

Nur auf eine bestimmte Klientel wirke der Komplex abstoßend, sagt Bürgermeister Dürr und meint Menschen, „die hier niemals herziehen würden“. Aber erst vor kurzem wurde wieder ein zehn Hektar großes Neubaugebiet ausgewiesen, allerdings an der vom Atomkraftwerk abgewandten Seite. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Bauplätze seien fast alle schon verkauft.

Nun muss sich der Ort an eine neue Zukunft gewöhnen. Die Abschaltung eines der beiden Meiler ist der erste Schritt ins postatomare Zeitalter hier. „Als Techniker muss man das nicht als Schicksal betrachten“, sagt der ehemalige Kraftwerksleiter Eberhard Grauf. Er wusste, dass das Werk, in dem er fast sein ganzes Leben beschäftigt war, auf eine Betriebsdauer von 40 Jahren ausgelegt war, und dass danach Schluss sein würde. „Das ist keine Technik für die Ewigkeit“, sagt er.

Dabei ist Neckarwestheim I als einer der wenigen Altmeiler sogar gegen den Absturz von Starfightern geschützt. Und Grauf erinnert sich, wie schwierig es gewesen sei, sich in der Konzeptionierung plötzlich auch mit dieser Eventualität beschäftigen zu müssen und eine genügend starke Panzerung zu erfinden. Der letzte Starfighter wurde 1990 ausgemustert.

Mitarbeit Ariane Bemmer

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