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Viele Fragen: Was wussten die Behörden über Anis Amri?

© dpa/Arne Dedert

Update

Attentäter vom Breitscheidplatz: Was im Fall Anis Amri alles schief gelaufen ist

Obwohl die Behörden fast alles über Anis Amri wussten, verhinderten sie das Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz nicht. Wie werden die Versäumnisse aufgearbeitet? Ein Überblick.

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Im Fall des Berlin-Attentäters Anis Amri gibt es viel Streit. Nordrhein-Westfalen, Berlin und der Bund verhaken sich in der Frage, wer die meiste Verantwortung dafür trägt, dass der Tunesier nicht rechtzeitig gestoppt wurde, bevor er am 19. Dezember einen Truck kaperte und zwölf Menschen tötete. Besonders heftig ist die Debatte in Nordrhein-Westfalen. Hier wird am 14. Mai ein neuer Landtag gewählt, der Fall Amri schwingt im Wahlkampf mit. Ein Blick auf bislang bekannte Fakten lässt allerdings erkennen, dass kaum jemand von sich behaupten kann, keine Fehler gemacht zu haben.

Welche Rolle spielt Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger?

Der Sozialdemokrat gilt bei der Opposition im Düsseldorfer Landtag als der eigentliche Versager. Immerhin war Amri bis zuletzt in NRW gemeldet und die Behörden des Landes hielten ihn für gefährlich. Im Januar forderten CDU und FDP den Rücktritt Jägers – er lehnte ab. Würde Jäger aufgeben, wäre die rot-grüne Landesregierung im Wahlkampf geschwächt.

Der Minister gibt zwar zu, Anis Amri sei von den Behörden falsch eingeschätzt worden. Doch das bezieht Jäger ebenso auf Berlin und den Bund. Dennoch setzten im Februar die Landtagsfraktionen von CDU, FDP und Piraten einen Untersuchungsausschuss durch. Das Gremium hat allerdings nicht mal drei Monate Zeit, die komplexe Materie aufzuarbeiten. Die Opposition will sich jedoch die Gelegenheit nicht entgehen lassen, kurz vor der Wahl den Innenminister der SPD bohrenden Fragen auszusetzen. Am Mittwoch war es soweit. Doch Jäger ließ sich nicht erschüttern. „Low-Tech-Terrorismus“ sei auch in einer High-Tech-Welt schwer zu verhindern, sagte er den Abgeordneten.

Wie agiert die Landesregierung?

Sie hat versucht, sich mit einem wissenschaftlichen Gutachten zum Handeln der Behörden im Fall Amri etwas Luft zu verschaffen. Das ist nicht ganz gelungen. Der Gießener Rechtswissenschaftler Bernhard Kretschmer hat ein Papier erstellt, das so positiv ausfällt, dass es nur bedingt glaubwürdig wirkt. Es gebe „keine durchgreifenden Anhaltspunkte für ein relevantes Fehlverhalten oder für relevante Versäumnisse von Stellen und Behörden des Landes Nordrhein-Westfalen“, stellt er fest. Das erscheint fraglich und der Gießener Professor selbst ist umstritten.

Sogar in der Landesregierung gibt es Zweifel an seiner Unabhängigkeit. Die Grünen regen an, den Auftrag zu einem Gutachten neu zu vergeben. Wie die Opposition stößt sich die Regierungspartei daran, dass Kretschmer vor dem Auftrag zur Analyse des Falles Amri bereits in Verhandlungen mit der Universität Bielefeld stand. Kretschmer möchte von Hessen an die Hochschule des Landes Nordrhein- Westfalen wechseln. Die Staatskanzlei in Düsseldorf sagt, die Bewerbung Kretschmers sei ihr nicht bekannt gewesen.

Was lief in NRW im Fall Amri schief?

Den Behörden im Land war der Tunesier als hinreichend gefährlich und auch kriminell bekannt – eine Abschiebehaft wäre also durchaus vorstellbar gewesen. Bereits im März 2016 drängte das Landeskriminalamt auf den Erlass einer Abschiebeanordnung gegen Amri gemäß Paragraf 58a Aufenthaltsgesetz. Dort wird explizit die Abwehr einer terroristischen Gefahr genannt. Die war für das LKA zum Greifen nahe: „Die Prognose, dass von Amri eine Gefahr im Sinne eines terroristischen Anschlags ausgeht, basiert auf Tatsachen, die sich insbesondere aus der Überwachung seiner Telekommunikation ergeben“, heißt es in dem Schreiben ans Innenministerium.

Das LKA hatte bei der Überwachung der Telekommunikation Amris mitbekommen, dass er in Kontakt zu tunesischen Kämpfern der Terrormiliz IS in Libyen stand. In einem Chat habe Amri verklausuliert angekündigt, „dass er in Deutschland sei, um ein Selbstmordattentat auszuüben“, steht im LKA-Papier. Und: „Vor dem Hintergrund der bedrohten Rechtsgüter, nämlich im Falle eines terroristischen Anschlags Leib und Leben einer Vielzahl von Bürgern, wäre eine Abschiebung des Amri auch verhältnismäßig.“ Hinzu kommt, dass Amri nach Erkenntnissen des LKA arabischsprachige Internetseiten anklickte, auf denen die Herstellung von Sprengsätzen beschrieben wird.

Jäger betont allerdings, Amri habe nicht abgeschoben werden können, da Tunesien sich lange weigerte, ihn als Staatsbürger anzuerkennen. Im Oktober 2016 teilte jedoch das Bundeskriminalamt dem LKA mit, der Leiter des Interpol-Büros in Tunis habe Amris Identität bestätigt. Spätestens jetzt, meint Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), hätte ein Antrag auf Abschiebehaft zumindest versucht werden müssen. So äußerte sich der Bundesinnenminister am Dienstag vor dem Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag.

Welche Fehler machte Berlin?

In Nordrhein-Westfalen wird immer wieder darauf verwiesen, Amri habe sich vor dem Anschlag vom 19. Dezember monatelang in Berlin aufgehalten. Die Polizei dort habe im September die Überwachung des Tunesiers beendet. Das trifft zu: Generalstaatsanwaltschaft und LKA Berlin hatten keine Erkenntnisse über terroristische Aktivitäten gewonnen. Dass Amri im Görlitzer Park mit Drogen dealte und sich in einer Kneipe schlug, reichte für eine weitere Überwachung nicht. Dass die Berliner Behörden die rechtlichen Grenzen nicht überschritten, ist ihnen nicht vorzuhalten.

Eine andere Geschichte, die NRW gegen Berlin verwendet, wirft hingegen Fragen auf. Fast schon genüsslich hält Professor Kretschmer in seinem Gutachten der Berliner Polizei vor, es sei „kein kriminalistisches Glanzstück“ gewesen, Amris Geldbörse und das auf einen falschen Namen ausgestellte, vorläufige Aufenthaltspapier erst am Tag nach dem Anschlag im Führerhaus des Lkw gefunden zu haben. „Dieses durch den Polizeipräsidenten nicht zureichend entschuldigte Versäumnis hat nicht nur die ohnehin üblichen Verschwörungstheorien befeuert, sondern die Fahndung nach Amri maßgeblich verzögert“, schreibt er. Tatsächlich bleibt unklar, warum die Polizei die Utensilien des Attentäters erst spät entdeckte.

Wie geht es weiter in Berlin?

Der Berliner Senat hat am Dienstag die Einsetzung eines Sonderbeauftragten beschlossen. Dies geht auf einen Vorschlag des Berliner Innensenators Andreas Geisel (SPD) zurück. Ab Mitte April soll dieser seine Arbeit aufnehmen und mögliche Fehler vor dem Terroranschlag des Tunesiers Anis Amri auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche untersuchen. Nach Tagesspiegel-Informationen ist die Wahl auf den pensionierten Bundesanwalt Bruno Jost gefallen. Der Sonderbeauftragte soll „unabhängig und weisungsungebunden“, so ein Sprecher der Innenverwaltung, das Handeln der Sicherheitsbehörden untersuchen. Bis zum Sommer soll sein erster Bericht vorliegen.

Jost war als Oberstaatsanwalt seit 1992 am Bundesgerichtshof für Straftaten gegen die innere Sicherheit Deutschlands zuständig, wechselte dann in die Abteilung für äußere Sicherheit und wurde im Jahr 2000 zum Bundesanwalt befördert. Der profilierte Jurist ging 2009 in den Ruhestand. Bundesweit bekannt wurde der Chefermittler nach der Ermordung von vier iranischen Oppositionellen im Berliner Restaurant „Mykonos“ in der Prager Straße in Wilmersdorf im Jahr 1992.

In Berlin wird im Fall Amri zunächst kein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt. „Das macht keinen Sinn, parallel zum Sonderbeauftragten einen solchen Ausschuss einzusetzen“, sagte CDU-Innenpolitiker Burkard Dregger dem Tagesspiegel. Bruno Jost sei ein unabhängiger Ermittler mit bester Reputation, der nicht im Verdacht stehe, sich politisch instrumentalisieren zu lassen. „Sollte man nach dem Abschlussbericht sehen, dass die Ermittlungen nicht vollständig sind, schließen wir einen Untersuchungsausschuss auch nicht aus“, sagte Dregger. FDP und AfD fordern einen Untersuchungsausschuss. Ohne die CDU aber wird das Quorum für die Einsetzung dieses Gremiums nicht erreicht.

Hat der Bund alles richtig gemacht?

De Maizière kritisiert zwar Nordrhein-Westfalen, aber der Bund selbst hätte laut Paragraf 58a eine Abschiebungsanordnung gegen Amri einleiten können. Außerdem haben im November fünf Bundesbehörden bei einer Sitzung mit ihren Partnern aus NRW und Berlin gemeint, auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse sei „kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar“.

Was sagen die Geheimdienstkontrolleure des Bundestages?

Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) hatte zum Fall Amri eine Taskforce eingerichtet, die am Mittwoch ihren Bericht vorlegte. Die Abgeordneten kommen nach dessen Lektüre zu dem Schluss, dass es auf Basis der vorliegenden Informationen zwingend war, „Amri als sehr gefährlich einzuschätzen“. Umso unverständlicher sei, dass seine Handlungsspielräume nicht konsequenter eingeschränkt wurden. Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele, Mitglied im PKGr, forderte, die zuständigen Minister müssten „Verantwortung dafür übernehmen, dass der Anschlag nicht verhindert wurde.“ Auch André Hahn, der stellvertretende PKGr-Vorsitzende, sagte: „Es gab ausreichend Möglichkeiten, den Anschlag zu verhindern. Da haben viele Behörden sträflich versagt.“ Auf Grund der zahlreichen Strafverfahren, die gegen Amri liefen, hätte es beispielsweise die Möglichkeit gegeben, ein Sammelverfahren anzustrengen und ihn so festzusetzen.

Der PKGr-Vorsitzende Clemens Binninger kritisierte dagegen das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). Dort war Anis Amri insgesamt elf Mal Thema - dabei ging es aber immer nur um Hinweise auf bestimmte Taten und nicht um die Gefährlichkeit von Amris Person insgesamt. „Erhärteten sich der Verdacht auf einen konkreten Anschlagsplan nicht, schenkte man Amri weniger Aufmerksamkeit, obwohl er immer noch gefährlich war“, sagte Binninger. Er nannte das „eine formal-künstliche Konstruktion“.

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