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Politik: „Auch ihr werdet gebraucht“

Ost-Minister Tiefensee will Langzeitarbeitslose beschäftigen – und gleichzeitig arbeitslos gemeldet lassen

Die Chefin der NRW-SPD, Hannelore Kraft, droht mit dem Ende der West-Ost-Solidarität. Stört Sie das?

Was sich zurzeit innerhalb aller Parteien, und leider auch in meiner, abspielt, das ist eine ganz neue Qualität der Neiddebatte. Sie zielt bewusst auf die Beendigung des Solidarpaktes ab und ist doch nichts anderes als eine persönliche Profilierung Einzelner auf Kosten des Ostens. Dabei werden bewusst die Fakten verdreht. Richtig ist: Im Osten mangelt es flächendeckend an Wirtschaftskraft. Wer behauptet oder auch nur unterstellt, der Osten sei eine einzige blühende Landschaft, die längst ohne Westgelder auskommen würde, begibt sich auf Stammtischniveau. Solch politische Zündelei ist langfristig gefährlich, weil sie die Solidarität in Deutschland gefährdet. Im Osten zweifelt ja auch niemand – und zwar zu Recht – die Kohlesubventionen für Nordrhein-Westfalen oder die Hilfen für die Werften anderenorts an.

Auch im Westen gibt es Gebiete, die Unterstützung benötigen.

Auch Städten wie Gelsenkirchen muss geholfen werden. Wir erkennen das an, und mit dem Stadtumbauprogramm West leistet der Bund längst Unterstützung. Aber gerade mit Blick auf Nordrhein-Westfalen muss die Frage erlaubt sein, ob die Verteilung des Geldes richtig ist, wenn es Städten wie Düsseldorf hervorragend und Nachbarstädten sehr schlecht geht. Die Neider jedoch zeichnen ein Bild, das vom Zustand etwa Dresdens auf den Zustand des gesamten Ostens schließen lässt. Und das ist falsch. Die Fakten sind leider eindeutig: Die Wirtschaftskraft im Osten liegt bei zwei Dritteln des Westniveaus, und die Arbeitslosigkeit ist im Schnitt doppelt so hoch.

Gibt es für die strukturschwächsten Regionen in Ost und West überhaupt Hoffnung?

Das Hauptproblem dieser Regionen ist die Langzeitarbeitslosigkeit, weil es dort kaum Arbeitgeber im ersten Arbeitsmarkt gibt. Viele gut ausgebildete Menschen, die arbeiten wollen, sehen für sich keine Chance auf einen Job. Denen muss geholfen werden, und zwar nicht mit Umschulungen oder auf ein paar Monate begrenzte Tätigkeiten. In Leipzig ist es gelungen, solchen Menschen dauerhaftere berufliche Perspektiven zu eröffnen. In einem von mir initiierten Modellprojekt arbeiten mehr als 100 Langzeitarbeitslose erfolgreich als Fahrgastbegleiter in Bussen und Bahnen. Das nimmt keine Arbeit im regulären Arbeitsmarkt weg. Dieses Modell müssen wir auf andere Bereiche übertragen und bundesweit auf alle strukturschwachen Regionen mit hoher Langzeitarbeitslosigkeit ausdehnen. Das Hauptproblem liegt aber weiter im Osten. Gerade für diese Menschen, die unverschuldet durch den Fall der Mauer und den wirtschaftlichen Umbruch ohne Arbeit sind, müssen wir etwas tun.

Sie wollen die Dauer-ABM einführen?

Nein, keine Beschäftigungsmaßnahmen, sondern reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeit für mehrere Jahre. Einen staatlich geförderten ersten Arbeitsmarkt, wenn man so will. Die Betroffenen sollen bei Kommunen oder kommunalen Betrieben angestellt sein und trotzdem weiter für die Vermittlung der Jobcenter zur Verfügung stehen. In den Verkehrsbetrieben, Schulen, bei der Pflege oder in Kinderbetreuungseinrichtungen sollen sie zusätzliche Arbeit übernehmen, die dort seit Jahren nicht angeboten wird. Arbeitsminister Franz Müntefering und wir im Forum Ostdeutschland arbeiten solche Lösungen zurzeit aus.

Und wer bezahlt dafür?

Bund, Länder, Kommunen und die Bundesagentur müssen dafür als Kofinanzierer gewonnen werden. Worum es geht, ist ein Zeichen an diese hunderttausend Menschen, dass wir ihnen eine Möglichkeit eröffnen wollen, am wirtschaftlichen Aufschwung teilzuhaben, der an ihnen – vor allem im Osten – bisher weitgehend spurlos vorbeigegangen ist. Wenn jetzt die Steuereinnahmen sprudeln, dann muss die Botschaft an sie lauten: Auch ihr werdet gebraucht, und wir tun etwas für euch.

Das Gespräch führte Antje Sirleschtov.

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