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Politik: Auf Augenhöhe

Das Mauerfall-Gedenken lenkt den Blick auf die Ostdeutschen an der Spitze

Von Matthias Schlegel

Berlin - Sie ist ein Buch mit sieben Siegeln, die deutsche Einheit. Der Berliner Kunstschmied Achim Kühn hat den am Vorabend des 16. Jahrestages des Mauerfalls erstmals vergebenen Preis der „Deutschen Gesellschaft e. V.“ genau als solches gestaltet: ein Buch aus Eisen und Stahl, das schwer zu erschließen ist und an dem man schwer trägt. Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel und der scheidende Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) erhielten den Preis am Dienstag in Berlin für ihren Beitrag, in Europa und Deutschland Vorurteile abzubauen, Gemeinsamkeiten zu suchen.

Beim Mauerfall-Gedenken geht heuer der Blick mehr voraus als zurück. Denn weil mit Merkel und dem künftigen SPD- Chef Matthias Platzeck zwei Ostdeutsche die politischen Geschicke entscheidend gestalten werden, sehen sich viele Menschen aus den neuen Ländern plötzlich – ohne wohlmeinende Sonntagsreden – auf Augenhöhe mit den Westdeutschen.

Der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse von der Universität Chemnitz macht einen solchen psychologischen Effekt aus. Doch für ihn ist die ostdeutsche Doppelspitze noch mehr: ein Glücksfall für die deutsche Politik. „Beide sind als gelernte Naturwissenschaftler pragmatischer und weit weniger ideologieorientiert als westdeutsche Politiker“, sagt der nach der Wende aus dem Westen in den Osten gekommene Wissenschaftler. Gerade weil sie Erfahrungen mit einem überideologisierten Staat gemacht hätten, werde sich ihre Politik am Notwendigen und Machbaren ausrichten, „ohne unrealistische Versprechungen zu machen.“

Ein Manko sieht Jesse allerdings darin, dass Platzeck nicht in die Regierung eingebunden ist. Doch das sei ein strategisches Kalkül: Wenn ein von Merkel geführtes Kabinett vorzeitig scheitere – womit Platzeck zu rechnen scheine –, stehe er unverbraucht als SPD-Kanzlerkandidat zur Verfügung. In den neuen Ländern wisse man, dass die Bundesrepublik künftig in jedem Falle von einem Ostdeutschen an der Spitze regiert werde. Ein Nebeneffekt sei, dass der PDS der Nimbus genommen werde, alleiniger Interessenvertreter der Ostdeutschen zu sein.

Differenzierter sieht es der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Das bisherige Wachstumsmodell mit dem Ziel materiellen Wohlstands habe offensichtlich seine Grenzen erreicht. Es werde „eine neue Gesellschaftsidee gebraucht: gut leben, auch wenn wir nicht mehr so reich sind.“ Dabei könnten vor allem die Ostdeutschen ihre Erfahrungen und Traditionen einbringen – mehr Beziehung als Individualisierung, mehr Moderation als Abgrenzung. Dafür stehe in den Augen vieler Ostdeutscher eher Platzeck – aber in der neuen Konstellation könnte Merkel durchaus neue Seiten zeigen, sagt Maaz.

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