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Politik: Auf dem Vormarsch

Radikale Islamisten bedrohen die Herrschenden in Marokko – aufgestachelt durch Pamphlete bin Ladens und Hass auf die USA

Die Marokkanerin Lumina Haffa entkam dem Albtraum von Casablanca wie durch ein Wunder. Sie wird aber nie vergessen, was sie im Restaurant „Casa de Espana“ nach den Anschlägen gesehen hat: „Sie haben dem armen Wachmann mit einem großen Messer die Kehle durchgeschnitten.“ Umgeben von einer Blutlache, habe man seine Leiche auf seinem Stuhl am Eingang gefunden. Und noch schlimmer habe es im Restaurant ausgesehen: „Über all lagen Körperteile herum.“ Der Kellner Abdelkader überlebte nur, „weil ich gerade in die Küche ging, um ein fertiges Gericht für einen Gast zu holen.“ In diesem Moment zündeten die Selbstmordattentäter, die in das Restaurant gestürmt waren, ihre Bomben. „Gott rettete mein Leben", sagt Ali. Sein Kollege sprang Sekunden nach der Explosion geschockt von der Terrasse, die im dritten Stock liegt. Er wurde schwer verletzt. Das Restaurant, nicht weit von der weltberühmten Medina-Altstadt entfernt, war ein beliebter Treffpunkt für marokkanische und ausländische Geschäftsleute der drei Millionen Einwohner zählenden Metropole. In dieser Nacht sterben allein hier, auf der Restaurant-Terrasse mindestens 20 Menschen.

Die Terrorwelle gegen westliche und jüdische Einrichtungen in der marokkanischen Metropole Casablanca kommt keineswegs überraschend. Die radikalen und gewaltbereiten Islamisten sind in dem wankenden Königreich und wichtigen Nachbarn auf der anderen Seite des Mittelmeeres schon länger und stetig auf dem Vormarsch. Und nirgendwo gedeiht der Extremismus so Besorgnis erregend wie in Casablanca, wo in den Slums am Stadtrand, unsichtbar für touristische Besucher der weltberühmten Altstadt, rund eine Million Menschen unter unwürdigen Umständen hausen.

Prediger als Helden

Das Reich von König Mohammed VI. ist in Wirklichkeit ein Reich der Armen, in dem die radikalen Prediger in den Vorstädten zunehmend die wahren Helden sind. Genauso wie Osama bin Laden und Saddam Hussein, für die hier Zigtausende bereit sind zu sterben. Auf Massendemonstrationen während des Irakkrieges trugen in Casablanca erschreckend viele Menschen Bildtafeln mit ihren berüchtigten Vorbildern. Nicht wenige hatten aus Pappe gebastelte Dynamitgürtel umgehängt oder schwenkten aus Holz geschnitzte Kalaschnikows. Dem offiziellen Marokko kam derweil kein Wort der Kritik am US-Verbündeten über die Lippen.

König Mohammed, dessen Verschwendungssucht im krassen Gegensatz zu seinen Reformversprechen steht, hat die Lage im Land nur noch Dank seines Polizeiapparates im Griff. Die eigentlich für Juni geplanten Kommunalwahlen wurden verschoben, aus Angst, auch mit den sonst üblichen Wahlmanipulationen den Aufstieg der Islamisten nicht mehr stoppen zu können. Bereits bei der Parlamentswahl im Jahr 2002 war die noch als gemäßigt geltende Islamisten-Partei für „Gerechtigkeit und Entwicklung“ auf Anhieb drittstärkste Kraft geworden. Und das, obwohl die Partei, um die drohende islamistische Revolution zu verhindern, nur in der Hälfte der Wahlkreise antreten durfte.

Nicht nur die Kommentatoren in Marokko sind deswegen nach der jüngsten Gewaltexplosion pessimistisch über die Zukunft des Landes. „Im Untergrund gibt es zahlreiche Gruppierungen, die nur auf ihren großen Augenblick warten“, heißt es. In seinem letzten Pamphlet hatte bin Laden seine Anhänger in Marokko aufgefordert, sich von ihrem „ungläubigen Regime zu befreien“. König Mohammed gilt den Extremisten als „Verräter“. Genauso wie Saudi-Arabiens König Fahd, der seine US-Gefolgschaft vor wenigen Tagen mit einer ähnlichen Terrorwelle bezahlte, wie sie nun Marokko erlebte.

Ralph Schulze[Madrid]

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