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Tausende lauschen den politischen Reden im Protestlager in Madrid.

© REUTERS

Auf den Barrikaden: Die Proteste in Spanien weiten sich aus

Was als Zeltlager arbeitsloser junger Spanier begann entwickelt sich immer mehr zum Aufruhr einer ganzen Nation. Bürger aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten fordern mehr direkte Demokratie und Arbeit für alle.

Wer dieser Tage über die Puerta del Sol schlendert, könnte meinen, sich auf einen Flohmarkt verirrt zu haben. Überdachte Stände mit bunten Schildern laden zum Stehenbleiben ein. Touristen schlendern durch sauber angelegte Gassen und beäugen Aushänge für Trommelworkshops und vegane Kochtreffen. Doch hier wird nichts verkauft – die Marktschreier preisen keine Oliven oder Serranoschinken an, sondern laden zur nächsten Versammlung ein oder bitten um Benzin oder Wasser für die Infrastrukturkommission.

Was als Zeltlager der Empörten begann, ist mittlerweile ein durchgeplanter Mikrokosmos, dessen Bewohner konzentriert daran arbeiten, dass die „Bewegung des 15. Mai“ kein zeitlich und räumlich begrenztes Aufbäumen bleibt. Der Wille der „acampados“, auszuharren, bis politisch etwas erreicht ist, bleibt ungebrochen. Dennoch sind sie sich bewusst, dass durch eine sture Sitzblockade allein weder die hohe Jugendarbeitslosigkeit noch die Korruption in Spanien bekämpft werden.

Die Forderung „Wirkliche Demokratie jetzt!“ hört sich idealistisch, wenn nicht sogar unrealistisch an. Trotzdem scheint die Basisdemokratie, die die Bewegung übt, auf großes Echo zu stoßen. Am vergangenen Samstag versammelten sich Anwohner aller Alters- und Gesellschaftsgruppen in 41 Stadtteilen und 80 Gemeinden Madrids zu Ablegerversammlungen, um über die Zukunft der Bewegung zu entscheiden – per Konsens. Sogar im Nobelviertel Salamanca trafen sich die Anwohner und vereinbarten, in Zukunft jeden Samstag zusammenzukommen, „egal ob es schneit, regnet, oder kalt ist“, wie die spanische Tageszeitung „El País“ berichtet. Auch bei den übrigen 120 Lokalversammlungen wurde ein Turnus für zukünftige Treffen vereinbart und Abgesandte zur Generalversammlung am Sonntag auf die Puerta del Sol geschickt, wo die 121 Lokalvertreter einer nach dem anderen angehört wurden.

„Ja, diese Form der Diskussion ist ermüdend, vor allem, wenn man über Stunden in der prallen Sonne sitzen muss“, gibt Jenifer Vahos zu. Die Kunststudentin hält trotzdem an dieser Form der Entscheidungsfindung fest: „Im alten Griechenland und in Rom wurde auch so abgestimmt. Politik hatte dort einen anderen Stellenwert, und solange sich die Leute ernsthaft der Demokratie gewidmet haben, waren es strahlende Nationen!“

Tatsächlich weiß die anfangs eher unkoordinierte Bewegung mittlerweile recht gut, wohin sie will. Aus einem Katalog von tausenden Klagen und Vorschlägen haben sich vier Grundforderungen herauskristallisiert: eine Reform des Wahlgesetzes, verstärkte Kontrolle über die Politiker, Kampf gegen Korruption und Trennung der politischen Kräfte. Diese recht schwammigen Forderungen haben die verschiedenen Kommissionen (von Wirtschaft über Kultur bis hin zur Kommission für Respekt gibt es für so ziemlich alles ein eigenes Komitee) in acht Punkten ausformuliert.

Die wohl radikalste Forderung ist die Abschaffung des Senats, der eine ähnliche Funktion einnimmt wie der Deutsche Bundesrat. „Deutschland hat nur einhundert Senatoren und die EU einen pro Land, warum sollen wir also 260 Senatoren unterhalten?“, lautet der in Großbuchstaben geschriebene Aufschrei am Ende des Manifests. 450 Millionen Euro wären durch die Streichung des Senats, Kürzung von Zahlungen an Parteien und Verbände sowie den Abbau von Diplomatenstellen einzusparen, so die Rechnung der Empörten. Strengere Kontrollen der Banken und Investitionsgesellschaften sollen Katastrophen wie das Platzen der Immobilienblase in Zukunft vermeiden. Den Politikern, die sich zur Wahl stellen oder schon ein politisches Amt haben, soll ganz genau auf die Finger geschaut werden: Dem schwänzenden Amtsinhaber drohen Sanktionen, außerdem soll Korruption sich nicht mehr verjähren.

„Bei den vergangenen Wahlen sind mehr als einhundert geschmierte Politiker angetreten“, beklagt Andrea Carrasco Lopez, die kurz vor dem Abschluss ihres Jura- und Wirtschaftsstudiums steht. „Ich hielte es für eine gute Idee, wenn die Bewegung des 15. Mai eine Partei bilden würde, eine Partei der gewöhnlichen Leute. Das Großartige ist, dass es ursprünglich eine Initiative von Jugendlichen ist, die jetzt auch von den Älteren angenommen wird.“ Was das Camp auf dem Sol-Platz angeht, ist sie skeptisch: „Ich gebe ihnen vielleicht einen Monat.“

Ginge es nach der Stadtverwaltung unter der Konservativen Esperanza Aguirre und dem Madrider Einzelhandelsverband, wären die Zelte schon längst verschwunden. „Meine Einnahmen sind um 50 Prozent gefallen“, beklagt ein Kioskbesitzer, dessen Geschäft direkt an die Stadt aus Zelten und Pavillons stößt. „Ich bin weder für noch gegen die Demonstranten, aber je eher sie gehen, desto besser.“ Eine mögliche Räumung hängt wie ein Damoklesschwert über den Demonstranten, auch wenn nach dem Desaster von Barcelona wohl kaum jemand Verantwortung für weitere Verletzte übernehmen möchte. Bei der gewaltsamen Räumung des Protestlagers waren am Freitag in Barcelona mehr als 100 Menschen verletzt worden.

In Madrid entschieden sich die Teilnehmer der Generalversammlung erst in der Nacht von Sonntag auf Montag zum Weitermachen. Die Entscheidung zu bleiben war auch eine Geste der Solidarität mit den Demonstranten in Barcelona. Es wird also weiter gecampt, das Ende ist aber in Sicht: Die Informationskommission wurde am deutlichsten mit ihrer Forderung, die Zelte in einer Woche, also am kommenden Sonntag, abzubrechen.

Bis dahin heißt es, die entstandene Bewegung auf ein Ziel zu richten. Ob der Sprung vom Internet über die Zeltlager bis ins politische Geschäft reicht, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Eine Bewegung, die bewusst auf Anführer verzichtet und auf den Konsens setzt, wird es in der Ellenbogenpolitik schwer haben. Andererseits kann sie auf breite Unterstützung zählen und überwindet sogar die Mauern der ewigen Regionalkonflikte. Spätestens wenn im April 2012 die Parlamentswahlen anstehen, wird sich herausstellen, ob die Mahnung auf einem der vielen Schilder an der Puerta del Sol berechtigt war: „Madrid, du siehst wach so schön aus. Schlaf nicht wieder ein!“

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