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Politik: Auf Wolfgang Schnur und Rainer Eppelmann hoffte die DDR-Opposition. Doch einer der beiden war ein Verräter.

Am Tag als die Mauer fällt, trennen sich ihre Wege. Der eine machte Karriere, der andere hat alles verloren.

Am Tag als die Mauer fällt, trennen sich ihre Wege. Der eine machte Karriere, der andere hat alles verloren. Ende einer FreundschaftJana Simon

Als die Mauer fiel, saß Wolfgang Schnur im Auto von Dresden nach Berlin. Es war spät, dunkel, und das Radio lief. Als er die Nachricht von den tanzenden Massen auf dem Grenzstreifen hörte, war er erfreut, "dass sich da etwas getan hatte". Das war alles. Seine Arbeitspläne hat er nicht umgestoßen. Er ist nicht rüber nach West-Berlin, auch nicht am nächsten Tag. Vielleicht hat er geahnt, dass dies das Ende war. Das Ende des Wolfgang Schnur, wie es ihn einmal gab.

Zehn Jahre sind vergangen seit jenem Tag im Auto. Schnur ist jetzt 55, die grauen Haare hat er gescheitelt, und er trägt einen Bart. Wer ihn von früher kennt, würde ihn kaum erkennen. Schnur hat wieder Arbeit in einem Dorf in Brandenburg. Ein westdeutscher Millionär hat dort die ehemaligen russischen Kasernen gekauft. Schnur ist sein Rechtsberater. Er sitzt im Büro seines Chefs am großen Konferenztisch und wirkt wie jemand, der hier abgesetzt wurde und noch nicht richtig weiß, ob er bleiben darf. Über ihm hängen Landschaften in Öl. Vor dem Haus parkt der schwarze Mercedes seines Chefs. Im Vorraum knabbert ein Leguan Salatblätter. Im Nebenzimmer steht ein Porträt von Hermann Göring, dem die Villa einmal gehört haben soll. Mittendrin hockt Wolfgang Schnur, den Rücken durchgedrückt und den Blick geradeaus. Die Arbeit ist eine Chance. Seine Chance, wieder dazu zu gehören zur Gemeinschaft der Anerkannten.

Seit 1978 war Schnur einer der wenigen Einzelanwälte der DDR. Er war einer, der Wehrdienstverweigerer und Oppositionelle verteidigte und Ausreisewillige unterstützte. Nur wenige haben das Offensichtliche richtig gewertet. Wieso sitzt einer mit solchen Kontakten nicht längst selbst im Knast? Aber zu ungeheuerlich war die Vorstellung.

Noch kurz vor dem Mauerfall wurde Schnur Vorsitzender des neu gegründeten Demokratischen Aufbruchs (DA). In Gedanken war er schon neuer Ministerpräsident der DDR. Die Sterne schienen nah. Von sich selbst hatte er sich da schon verabschiedet. Er war Wolfgang Schnur, der in der dritten Person von sich redete. Noch heute passiert ihm das manchmal.

Es gibt ein Foto. Rainer Eppelmann hat es aufgenommen. Darauf liegt eine silberne Abhörwanze auf seinem Wohnzimmerteppich. Eppelmann hat sie in seiner Wohnung gefunden. Drei Stück insgesamt. Eine steckte im Radio, die andere in einer Steckdose und noch eine im Fuß seiner Schreibtischlampe. Damals hat er Anzeige erstattet. Natürlich hat sich daraufhin nie jemand gemeldet. Es ist länger als ein Jahrzehnt her, aber es wirkt wie ein Jahrhundert. Und Eppelmann hat diese Geschichte schon tausendmal erzählt. Er weiß, wann er die Pausen machen muss für den Schrecken und wann er weiterreden muss, um die Spannung zu halten. Er erzählt gern von damals. Damals, als er noch Pfarrer war in der Samariterkirche in Ost-Berlin, als zu seinen Blues-Messen Tausende pilgerten und Stasi-Chef Mielke ihn für den "Staatsfeind Nummer Eins" hielt.

Die Staatssicherheit plante seinen Tod. Er sollte bei einem Unfall ums Leben kommen. Zeitweise waren 43 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) auf ihn angesetzt. Einer davon war sein Freund Wolfgang Schnur - mit dem er Urlaub gemacht, mit dem er über Inhaftierte gesprochen und mit dem er im Oktober 1989 den DA gegründet hatte. Fast zehn Jahre lang hatte der ihn bespitzelt. "Die Haupteinsatzrichtung des IM besteht in der aktiven Bearbeitung negativ-feindlicher Kräfte in der DDR, unter besonderer Beachtung von Pastor Eppelmann", hieß Schnurs Auftrag.

Das Ende des Wolfgang Schnur kam langsam, schleichend. Im Januar 1990, tauchten am Runden Tisch Gerüchte auf. Es folgten Denunziationen, dann recherchierte der "Spiegel". Zuletzt hatte Schnur einen Kreislaufkollaps. Das war am 7. März 1990. Im Nachhinein sagt er: "Ich bin machtgeil gewesen." Unfähig, etwas aufzuhalten, lag er im Krankenhaus und schloss ab mit seiner Karriere. Dass er gar nicht hätte weitermachen können, sieht er nicht. Er redet, als hätte er bis zum Schluss die Fäden seines Lebens in der Hand gehalten. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich schon zu einem Knäuel verwirrt. Die CDU schickte eine Delegation ans Krankenbett mit der Bitte um Rücktritt als DA-Vorsitzender. Sein Nachfolger wurde Rainer Eppelmann.

Damals hat sich sein Freund Eppelmann vor ihn gestellt. Er konnte es nicht glauben. Als es dann klar war, hat Eppelmann ihn noch einmal im Krankenhaus besucht. Schnur sagte, er müsse sich jetzt um sich selbst kümmern. Das hieß, er verkaufte seine Geschichte an den "Stern". Dann ist Eppelmann gegangen. Seitdem hat er Schnur nicht mehr gesehen. Was fühlt man als Verratener? "Das ist wie Fremdgehen", sagt Eppelmann. "Einmal kann man vielleicht verzeihen. Aber was der gemacht hat, war ja wie permanentes Fremdgehen." Es ist noch nicht vorbei. Eppelmann schaut zur Seite, wenn er über seinen damaligen Freund redet.

Eppelmann ist 56, ein Jahr älter als Schnur. Sein Büro liegt an der Friedrichstraße in einem Glaspalast. An seiner Tür klebt ein gelber Sticker: "Wir sind die Guten." Seit dem 9. November 1989 ging es beim ihm aufwärts. In der Regierung unter Lothar de Maizière war er, der ehemalige Wehrdienstverweiger, Minister für Abrüstung und Verteidigung. Seit 1990 sitzt er für die CDU im Bundestag. Er ist Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft und war Leiter der Enquête-Kommission zur Erforschung des DDR-Unrechts. Eppelmann ist einer der wenigen Bürgerrechtler, die man noch kennt. Viel zu sagen hat er in der Politik trotzdem nicht, das weiß er selbst. Viele der früheren Bürgerrechtler halten ihn heute für zu angepasst, für die anderen, die zu ihm stehen, hat er keine Zeit. Seine Frau ist gerade ausgezogen.

Im Nachhinein tut es Schnur Leid, dass er sich damals gerechtfertigt hat. Jetzt würde er gern mit Eppelmann sprechen, alles erklären. Aber es ist zu spät. Noch in der Nacht, in der der DA gegründet wurde, ging Schnur zu seinem Führungsoffizier. In den Akten steht, dass sie bis zwei Uhr morgens sprachen. Der Führungsoffizier schrieb in seinen Bericht: "Der IM hat sich vorbildlich an die Auftrags- und Verhaltenslinie gehalten." Warum? "Es war zuletzt auch eine eigene krankhafte Überzeugung, wenn du in diesem Machtmechanismus bist, kannst du doch mehr bewegen, als wenn du raus gehst." Er habe Angst gehabt vor dem Ausstieg, Angst, den Job zu verlieren.

Nie hat Schnur jemandem von seinen Treffen mit der Stasi erzählt. "Ich bitte Sie, Konspiration ist eines der wichtigsten Aufgaben eines Geheimdienstes", sagt Schnur heute noch, als hätte es nie eine andere Möglichkeit gegeben. Die Sätze von Schnur beginnen oft mit einem Angriff: "Na hören Sie mal, na, entschuldigen Sie, ich bitte Sie", sagt er dann. Und immer schraubt sich seine Stimme dabei am Ende hysterisch nach oben. Schnur hat sich verbarrikadiert, unerreichbar für die Außenwelt. Jede Sekunde wartet er auf den nächsten Schlag seines Gesprächspartners. Es ist das Verhalten eines Mannes, der von seinen Mitmenschen schon lange nichts Gutes mehr erwartet.

Es gibt eine Sache, in der sich Schnur und Eppelmann ähneln. Beide werden nicht gern kritisiert. Auch Eppelmann mustert sein Gegenüber unverhohlen skeptisch. Früher war er der ewige Rebell, jetzt wirkt er manchmal seltsam zahm. Aber seine Position hat sich fundamental verändert, damals war er dagegen, heute ist er dabei. Jetzt steht er auf der anderen Seite, der Seite der Macht.

Zuerst hat Schnur alle verraten. Dann hat er alles verloren. Die Freunde verschwanden. Die Anrufe blieben aus. Niemand kam mehr vorbei und fragte ihn um Rat. Dann wurde er krank - anderthalb Jahre lang. 1993 verlor er seine Zulassung als Rechtsanwalt. Mit zwei Partnern gründete er eine Firma. Es gab Streit, Vorwürfe. Schnur sagt, der eine habe sich sein Geld unter den Nagel gerissen. Vom Gericht wurde Schnur wegen Konkursverschleppung verurteilt. Er arbeitete dann bei einer Agrargenossenschaft. Aber die Vergangenheit ist hartnäckig. Nach dem Prozess 1996 gegen ihn wegen "Mandantenverrat" an Freya Klier, Stephan Krawcyk und anderen wurde sein Arbeitsvertrag nicht mehr verlängert. Er wurde zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Jede Station auf dem Weg nach unten hat Schnur durchlebt als weitere Demütigung. Und es hört nicht auf. Im April dieses Jahres hat er es wieder auf die Titelseiten geschafft. Zusammen mit einem Israeli, einem Deutsch-Afrikaner und einem Aktenkoffer voller Wertpapiere besuchte er eine Berliner Privatbank. "Wir wollten nur prüfen lassen, ob die Papiere für eine Beleihung in Betracht kommen", sagt er. Die Bank alarmierte die Polizei - Verdacht auf Fälschung. Das Ermittlungsverfahren läuft noch.

Eppelmann hat sich in seinem Bürosessel zurückgelehnt. "Ich habe alles erreicht, wovon ich als kleiner Junge geträumt habe", sagt er. Er hat ein Haus gebaut, ein Buch geschrieben, sitzt in einem gesamtdeutschen Parlament und war einmal in Israel. Eppelmann hat nicht vergessen, wie er sich in der DDR gefühlt hat, eingesperrt.

Schnur nimmt einen Schluck Kaffee. Er bewegt sich kaum. Nur ab und zu gehen seine Arme durch die Luft. Kaum etwas erinnert an den Mann, der 1990 von den Wahlplakaten der "Allianz für Deutschland" lächelte: "Damit sich Leistung wieder lohnt." Leistung ist ihm wichtig. Abends um acht sitzt er noch immer im Büro. Schnur will beweisen, dass er noch da ist. "Was denken Sie, wie es ist, abseits zu stehen." Da ist was in seinen Augen. Wenn man ihn so sieht, weiß man, das ist die größte Strafe für ihn - des Mittelpunkts beraubtzu sein. Der Ehrgeiz hält ihn noch heute fest im Griff.

"Es gibt da die zwei Gesichter des Wolfgang Schnur." Der eine Wolfgang Schnur hält sich selbst für einen Verräter, der andere überzeugt sich immer wieder von Neuem, dass er nur Gutes getan hat. Beide liegen in einem ständigen Kampf, der immer unentschieden endet. Selbst die Stasi wusste manchmal nicht genau, wen sie vor sich hatte. Zeitweise verdächtigte sie ihn, für einen westlichen Geheimdienst zu spionieren.

Schnur hat in den letzten zehn Jahren versucht, sich sein Leben zu erklären. Er hat Biografien gelesen. "Ich habe mich gefragt, was war mit den Männern vom 20. Juli 1944. Die haben erst beim Morden zugesehen und dann gesagt, jetzt können wir nicht mehr. Das passierte bei mir 1989." Namen rauschen durch die Luft - Dietrich Bonhoeffer, Oskar Schindler. "Herr Schindler hat sich doch auch mit der SS eingelassen. So habe ich mich mit der Stasi eingelassen, weil ich der Überzeugung war, dass ich so Menschen helfen könnte." Er meint das ernst. Jedes Maß für historische Vergleiche scheint er verloren zu haben.

Vielleicht hat er wirklich einigen geholfen, das Land zu verlassen, oder andere vor dem Gefängnis bewahrt. Wahrscheinlich hat er das. Aber Schnur redet von "Tausenden". Also gibt es "Schnurs Liste". Er nickt. "Die steht namentlich fest." In seinen Stasiakten steht nur der Verrat. Was aus den Bespitzelten geworden ist, ob sie frei gekommen sind oder nicht, wurde nicht notiert.

Im Nachhinein hat sich Rainer Eppelman oft gefragt, warum er nichts geahnt hat damals. Einmal hat er sich mit einem Freund darüber unterhalten, dass Schnur in seiner Position sehr gefährdet sei, von der Stasi benutzt zu werden. Einer, der wie er "das Geld, die Frauen und schnelle Autos liebt". "Freundschaft macht naiv", sagt er heute. Es klingt bitter.

Schnur hat ein bisschen Schicksal gespielt. Vielleicht war er am Anfang wirklich überzeugt, er arbeite für die gute Sache, den Sozialismus. Irgendwann hat er es dann vergessen. Er wuchs als Vollwaise auf; die Mutter, eine Jüdin, floh in den Wirren des Zweiten Weltkriegs Richtung Westen, der Vater war vorher umgekommen. Schnur kam 1946 zu Pflegeeltern - Landarbeitern. Wo seine leibliche Mutter lebte, erfuhr er durch Zufall. Schnur besuchte sie kurz vor dem Mauerbau. Aber er war nicht wirklich willkommen. Die Mutter ließ ihn nicht in ihrem Haus wohnen. "Ich merkte, da ist so eine Kälte, so eine Fremdheit", sagt Schnur. Fast ein Jahr blieb er im Westen. Dann kehrte er in die DDR zurück. Abgewiesen von der Mutter und als Rückkehrer in der DDR kritisch beäugt.

Eppelmann weiß noch genau, wie er kurz nach 13. August 1961 mit seiner Mutter und den drei Geschwistern an der Mauer in der Heinrich-Heine-Straße stand. Drüben auf der anderen Seite winkte ein Mann von einem Holzturm. Sein Vater. Er war kaum zu erkennen. Familientreffen an der Mauer. Kurz vor dem 13. August war Eppelmanns Vater in West-Berlin geblieben. Er hatte dort gearbeitet. Sein Sohn war zu jener Zeit in den Schulferien. Vielleicht hätte sich sein Leben sonst anders entwickelt. Seinem Vater hat er nie Vorwürfe gemacht, weil er die Familie zurückließ. "Ich war nur sauer, dass er mir vorher keinen West-Berliner Pass besorgt hatte."

Im Gegensatz zu Schnur strengte Eppelmann sich nach dem Mauerbau gar nicht mehr an, dazu zu gehören zur Gemeinschaft der DDR-Bürger. Von da an war er dagegen. 1964 sollte er zur Nationalen Volksarmee (NVA) eingezogen werden. Er verweigerte den Wehrdienst, wurde "Bausoldat", verweigerte auch das Gelöbnis und kam acht Monate in Haft. "Danach konnte mir keiner mehr mit Gefängnis drohen." Eppelmann studierte Theologie und wurde Pfarrer.

Vier Tage vor seinem 21. Geburtstag unterschrieb Schnur die Verpflichtungserklärung: Deckname Torsten. Er gehörte wieder dazu. Eines seiner ersten Opfer ist eine Frau aus West-Berlin, die ihn besuchte. Er gibt jeden ihrer Sätze weiter - auch als sie ihm erklärt, wie er am leichtesten die DDR verlassen könnte. Später hilft die Stasi Schnur, als er Jura studieren will, und wirkt bei seiner Zulassung zum Einzelanwalt im Hintergrund. Vieles, nicht alles, hat Schnur durch sie erreicht. Geld und Orden hat er bekommen. Aber was für einen Preis hat er dafür bezahlt. Auch wenn er das nicht sehen will. "Jawohl, wenn ich könnte, würde ich gern wieder ein politisches Amt ausüben wollen." Noch immer.

Draußen ist es dunkel geworden. Eppelmann redet über die Vergangenheit, seit Stunden. Im Gegensatz zu Schnur ist Eppelmann am 9. November 1989 sofort zum Grenzübergang an die Bornholmer Brücke geeilt. Er zeigt auf seine Hände: "Mit den beiden habe ich den Schlagbaum hochgehoben." Dann hat er anderthalb Stunden an der Grenze verharrt, um den Anblick der Feiernden zu genießen.

Für ihn war es der Anfang einer Karriere, für Schnur das Ende.

Jana Simon

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