zum Hauptinhalt

Politik: Aufstand der Tscherkessen

Autonomie-Forderungen der Volksgruppe aus dem Kaukasus schrecken den Kreml auf

Der Kaukasus bleibt ein Pulverfass. Ein außerordentlicher Kongress der Tscherkessen hat Moskau gerade erst klargemacht, welche Gefahren auch im bisher relativ ruhigen Nordwestkaukasus lauern. Einstimmig forderten die Delegierten von Präsident Dmitri Medwedew, dessen Bevollmächtigten Vertreter für den Nordkaukasus, Alexander Chloponin, und Premier Wladimir Putin Autonomie und die Gründung einer neuen nationalen Teilrepublik, in der die Siedlungsgebiete der derzeit in drei nordkaukasischen Gebietseinheiten lebenden Volksgruppe zusammengefasst werden.

Das Vorhaben wird auch von der Diaspora unterstützt. Sie zählt über zwei Millionen Menschen, die vor allem in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches leben, wohin Russland die Mehrheit der Tscherkessen nach dem großen Kaukasuskrieg Mitte des 19. Jahrhunderts kollektiv deportierte. Straff organisiert und wohlhabend sind die Landsmannschaften der Auslandstscherkessen aus Moskauer Sicht auch der eigentliche Initiator des nationalen Aufbegehrens, das – vom Tschetschenienkrieg einmal abgesehen – in der Geschichte des postkommunistischen Russlands ein Vorgang ohnegleichen ist.

Die eigentlichen Ursachen aber liegen tiefer und gehen auf Stalins Nationalitätenpolitik zurück. Aus Furcht vor Aufständen zog er nach der Gründung der Sowjetunion 1922 willkürliche Grenzen mitten durch das Siedlungsgebiet der über 150 Völker der Region und sperrte Ethnien mit völlig unterschiedlicher Herkunft, Sprache, Kultur und Geschichte zusammen. Besonders übel traf es dabei Tscherkessen und kleine Turkvölker wie Nogaier, Karatschaier und Balkaren. Zumal die einen wie die anderen in keiner Teilrepublik über klare Mehrheiten verfügen. Die stellten meist Russen, die Stalin während des zweiten Weltkriegs ansiedelte, nachdem er die Turkvölker wegen angeblicher Kollaboration mit der Wehrmacht nach Sibirien verbannt hatte .

Schon nach deren Rücksiedlung 1957 kam es zu Kämpfen um das knappe Acker- und Weideland. Als Boris Jelzin den Völkern Russlands nach dem Ende der Sowjetunion erlaubte, sich „so viel Souveränität zu nehmen, wie sie schlucken“ können, eskalierte die Situation. Die Teilrepublik Karatschai-Tscherkessien, wo auf einer Fläche kleiner als Schleswig-Holstein sechs Ethnien miteinander auskommen müssen, stand am Rande eines Bürgerkriegs.

Seit Medwedew in Moskau regiert, brechen die von Putin oberflächlich befriedeten Konflikte erneut auf. Die Tscherkessen, die in der Republik nur 11,3 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, treten jetzt mit Forderungen nach Autonomie und Gebietsreform die Flucht nach vorn an. Bisher haben sich die Kremlchefs freilich davor gedrückt, sich mit der komplizierten Problematik auseinanderzusetzen. Sie wissen aber: Wenn sie noch länger warten, könnten sich auch im Nordwestkaukasus Separatisten und radikale Islamisten breitmachen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false