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Entwurzelt. Syrische Binnenflüchtlinge in einem Lager bei Ain Issa in Syrien. Weltweit sind rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht.

© Reuters/Erik De Castro

Aurora Humanitarian Initiative: Jedes Leben zählt

Eine Initiative zeichnet Menschen aus, die zu Rettern wurden - und hilft ihnen, anderen zu helfen. Dies soll zu einer globalen Bewegung werden.

Fast jede Familie in Armenien hat Angehörige während des von der damaligen Regierung des Osmanischen Reiches veranlassten Genozids an den Armeniern von 1915 bis 1923 verloren. Wie groß das nationale Trauma ist, wird einem bewusst, wenn man die Gedenkstätte für die Opfer des Völkermords auf einer Anhöhe über Jerewan besucht. Immer wieder kommen Menschen hierher, um an der Ewigen Flamme Blumen niederzulegen. Wendet man sich an der Gedenkstätte nach rechts, erhebt sich majestätisch der Ararat, jener schneebedeckte Berg, der den Armeniern heilig ist.

Er scheint zum Greifen nah zu sein. Doch die damalige Sowjetunion hatte dieses Gebiet mit dem Berg 1921 der Türkei zugeschlagen. So liegt der Ararat unerreichbar hundert Kilometer von der seit 1993 geschlossenen Grenze entfernt. Armenien und die Türkei unterhalten wegen des Konflikts um Berg Karabach keine diplomatische Beziehungen.

Die Erinnerung an den Völkermord wiegt schwer, sie gehört zur DNA Armeniens. Es ist eine bedrückende Lage, mit der man fertig werden muss. Die „Aurora Humanitarian Initiative“ will an dieser festgefahrenen Situation auf vielen Gebieten etwas ändern.

Am Anfang standen drei Männer mit armenischen Wurzeln, der Unternehmer Ruben Vardanyan, der auch das UWC-College in Dilijan mitgegründet hat, der Unternehmer Noubar Afeyan und Vartan Gregorian, Präsident der Carnegie Cooperation New York, ehemals Präsident der Brown University New York und Mitglied des Boards der American Academy in Berlin: Sie alle wollten ein Zeichen setzen, das in die Zukunft reicht. Sie gründeten die Aurora Humanitarian Initiative, die von der IDeA Foundation (Jerewan, Armenien), der 100 Lives Foundation (Genf) und der Aurora Humanitarian Initiative Foundation (New York) getragen wird.

Dankbarkeit für die stillen Helden von damals und heute

„Bei der Erinnerung an hundert Jahre Völkermord haben wir erkannt, dass es auch noch andere Dimensionen als Ungerechtigkeit und Verbrechen gibt. Die Menschen haben nicht durch Magie überlebt. Sie haben überlebt, weil andere ihnen geholfen hatten. Aber dieser Teil der armenischen Geschichte ist nicht überall präsent“, erzählt Noubar Afeyan. „Für viele Nachfahren der Überlebenden ist das lange her. Sie sind über die ganze Welt verstreut. Kaum einer ist zurückgekehrt, um die Menschen zu suchen, die ihn gerettet hatten. Sie waren meist Waisen und hatten andere Sorgen“, erzählt Afeyan.

Was kann man also tun, um jenen Menschen Dank zu erweisen, die den Armeniern unter schwierigsten Bedingungen geholfen und sie gerettet haben? „Wir starteten das Projekt ,100 Leben’ , in dem wir den Geschichten der Retter nachspüren. Wir haben Stipendien zur Erforschung dieser Lebensläufe vergeben, vor allem im Libanon, weil dort viele armenische Waisen aufgenommen wurden“, erzählt Afeyan. Aber dann sei ihnen der reine armenische Bezugsrahmen zu eng gewesen.

Ruben Vardanyan, Vartan Gregorian (Mitte) und Noubar Afeyan (rechts), die Gründer der Aurora Humanitarian Initiative, bei der großen Gala in Jerewan 2017, auf der der Aurora-Preis verliehen wurde.
Ruben Vardanyan, Vartan Gregorian (Mitte) und Noubar Afeyan (rechts), die Gründer der Aurora Humanitarian Initiative, bei der großen Gala in Jerewan 2017, auf der der Aurora-Preis verliehen wurde.

©  Aurora Prize for Awakening Humanity

Wir wollten unsere Dankbarkeit zukunftsorientiert ausdrücken und den Helden unserer Zeit helfen, die unter schwierigsten Verhältnissen Menschenleben retten – genauso wie vor 100 Jahren.“ Ruben Vardanyan ergänzt: „Mein Großvater wurde von Türken gerettet, meine Großmutter von amerikanischen Missionaren, aber ich kann nicht zu den Menschen gehen, um mich zu bedanken, es ist zu lange her. Und dann wurde mir klar, dass in Syrien und Irak 100 Jahre später genau das Gleiche wieder passiert.“ Offensichtlich habe sich in dieser Region nichts geändert seit damals. „Wir müssen etwas tun, das nicht nur persönlich ist, sondern sich an die ganze Welt richtet“, bekräftigt er.

Noubar Afeyans Großvater und dessen Bruder wurden von deutschen Offizieren aus dem Deportationszug von Konstantinopel nach Deir-ez-Zor herausgepickt, weil sie blaue Augen hatten und perfekt Deutsch sprachen. Die Offiziere steckten sie in deutsche Uniformen und fortan arbeiteten die beiden Armenier in deutscher Uniform für die Deutschen – die Verbündeten des Osmanischen Reiches.

„Mein Großvater und sein Bruder durchsuchten die Deportationszüge nach der Elite des Landes, nach Priestern oder Lehrern zum Beispiel und bewahrten sie so vor dem Tod. Sie wollten angesichts des drohenden Massakers Teile der Intelligenz des armenischen Volkes retten, um dessen Überleben zu sichern“, berichtet Afeyan. „Was mich so fesselt an dieser Geschichte ist, dass einige deutsche Offiziere dies taten, obwohl sie Verbündete der Osmanen waren. Sie riskierten etwas, um Armenier zu retten. Viele Armenier heute hören das nicht so gerne, weil sie die Deutschen als die Bösen ansehen wollen. Dabei würde ich selbst gar nicht existieren, wenn sie meinen Großvater nicht gerettet hätten.“

"Wir dürfen nicht nur die Opferrolle einnehmen"

Die türkischen und deutschen Retter der Armenier hatten sich damals gegen die offizielle Politik gestellt und auf ihre Art Widerstand geleistet, indem sie aus humanitären Gründen Menschen vor dem sicheren Tod bewahrten.

„Warum sollten wir also gerade aus Anlass des 100. Jahrestages des Genozids nicht diese Menschen feiern, die Armenier gerettet haben? Es ist wichtig, sich der Vergangenheit bewusst zu sein. Aber wir müssen nach vorn schauen und nicht nur die Opferrolle einnehmen“, sagt Vartan Gregorian. „Bischof James Pike aus San Franciso hat einmal gesagt, Kategorisierung sei eine Sünde. Denn wenn du kategorisierst, beginnt die Entmenschlichung. Erinnern ist eine Sache, nicht an die Zukunft denken, eine andere. Wir müssen das Gewissen aufrütteln und den Anstand der Menschen wecken“, sagt Vardanyan. „Wenn Scham und Schuld aus der Welt verschwinden, ist alles möglich“, meint er.

Um diese Dankbarkeit zu zeigen, entstand neben dem „100 Lives Project“ die Idee eines Preises zu Ehren der stillen Helden unserer Tage, die ähnlich wie vor 100 Jahren Menschen unter größtem persönlichem Einsatz retten. „Aber wir wollten nicht einfach nur einen neuen Preis stiften, der für einen Moment die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht, sondern wir wollen eine Bewegung schaffen, weltweit. Wir wollen nicht nur die Retter von heute ehren, sondern sie in die Lage versetzen, den Dank, den sie erfahren haben, weiterzugeben. Üblicherweise bekommen diese Retter Geld von Stiftungen und Organisationen für ihre Arbeit. Aber wir wollen, dass sie auch darüber nachdenken, wem sie wiederum gerne helfen würden, um die Kette der Dankbarkeit zu erweitern“, erklärt Noubar Afeyan das Prinzip des Aurora-Preises zur Förderung der Menschlichkeit. In diesem Jahr wurde er zum zweiten Mal vergeben.

Für den Preis 2017 gingen über 550 Nominierungen für 254 Kandidaten aus 66 Ländern ein. Der hochkarätig besetzten Jury gehörten neben dem Stifter Vartan Gregorian drei Nobelpreisträger an, darunter Shirin Ebadi, und mit Mary Robinson, der ehemaligen Chefin des UNHCR und irischen Staatspräsidentin, sowie dem Schauspieler George Clooney auch Persönlichkeiten, die sich für humanitäre Hilfe engagieren.

Im Dezember diskutiert Aurora in Berlin das Thema Migration

Für das Jahr 2018 gingen 750 Nominierungen ein. Die fünf Finalisten in diesem Jahr waren Fartuun Adan und Ilwad Elman aus Somalia, Jamila Afghani aus Afghanistan, Tom Catena aus Sudan, Muhammad Darwish aus Syrien und Denis Mukwege aus der Demokratischen Republik Kongo.

Alle sind stille Helden, die jenseits der Weltöffentlichkeit unter schwierigsten Bedingungen Menschen in größter Not helfen. Jeder Nominierte bekommt 25 000 US-Dollar für seine Arbeit. Den Preis erhielt in diesem Jahr Tom Catena, der 100 000 US-Dollar für seine Arbeit bekam und eine weitere Million US-Dollar, die er an drei humanitäre Organisationen seiner Wahl weitergeben konnte.

Die Afrikanerin Marguerite Barankitse konnte den Krieg 1993 in Burundi nur überleben, weil ein Deutscher sie vor Ort in seinem Haus versteckt hatte. Nie hat sie das vergessen – und wurde selbst zur Retterin. 2016 wurde sie Aurora-Preisträgerin, weil sie unzählige Kinder vor dem Tod bewahren konnte.

Bei der Preisverleihung sagte sie:  „Es ist nicht in erster Linie das Geld, es sind das empfangene Mitleid und die Liebe, die mich stärken. Aurora schafft eine neue Familie der Humanität. Das Preisgeld lässt uns träumen. Viele Kinder in Kongo, Brasilien und Burundi gehen nun zur Schule – das zeigt, wir können die Welt ändern.“

Zur Aurora Humanitarian Initiative gehören ferner der Aurora Humanitarian Index zur Akzeptanz von Flüchtlingen in zwölf Ländern, Stipendien für arme Schüler am UWC College in Dilijan, Armenien sowie die Aurora-Dialoge zu humanitären Fragen, wie er im Dezember auch in Berlin zu Thema Migration stattfinden wird.

Die Aurora Humanitarian Initiative fördert den Preis bis zum 100. Jahrestag des Endes des Genozids 2023. Die Gründer hoffen, dass dieser Preis, den die „New York Times“ als humanitären Nobelpreis bezeichnet hat, danach zu einer humanitären Bewegung herangewachsen ist, die von weltweiten Spenden lebt und sich vom armenischen Vorbild emanzipiert. Sie soll zu einer weltumfassenden Bewegung zur Ehrung der stillen Helden der Humanität werden. Das könnte gelingen. Die Zahl der Spender ist seit Beginn kontinuierlich gewachsen. Und: Jeder kann zu diesem Projekt beitragen.

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