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Politik: Aus den alten Gräben

Von Stephan-Andreas Casdorff

War die Gesellschaft nicht schon über Ideologie hinaus und vielmehr an der Sache interessiert? Die Tage nach dem Mordversuch in Potsdam zeigen, dass beim Betrachten schwerwiegender Probleme viele Politiker doch noch schnell mit Ideologie bei der Hand sind. Das aber wirkt seltsam, fast undemokratisch, jedenfalls unsouverän, weil, anstatt Tatsachen zu sammeln und zu werten, wieder ganz schnell Weltbilder gegeneinander gestellt werden. Vermaledeit ist der Drang zur Polarisierung.

Dieses Reiz-Reaktions-Schema beherrscht unsere Politik bereits seit längerem, und es scheint nun so zu sein, als würde die den Hang, den Zwang zur Schnelligkeit nicht mehr los, im Gegenteil. Dabei ist das doch keine Politik. Politik benötigt Durchdringung, und die wiederum braucht eine Weile, weil sie von der Erkenntnis ausgehend weit reichende Entscheidungen treffen soll. Das ist das unveränderlich Prozesshafte an Politik. Gut Ding will Weile haben, weiß der Volksmund. Was sich zugegebenermaßen weniger philosophisch als banal anhört, ist doch essenziell, wenn nicht sogar existenziell wichtig für die Zukunft.

Was wissen wir? Was wissen wir wirklich? Ist das alles? Am Anfang stehen immer Fragen. Skeptizismus mag freudlos erscheinen und verlangsamend, er erspart aber die spätere Depression, wenn doch wieder alles in Frage steht, was geredet wurde. Das erleben gerade die christdemokratischen Innenminister. Von deren umstrittenen Äußerungen zu Potsdam ausgehend, könnten die Politiker aller Couleur erkennen, wenn sie wollten, dass es bei allen beherrschenden Themen der vergangenen Wochen dieses eine Muster gibt: Ob Schule, Familie, Integration oder Gewalt in der Gesellschaft, schnell sitzen die, die diese Debatten verantwortlich führen sollen, in den gleichen Gräben wie all die Jahre zuvor. Als lägen nicht 16 Jahre in einem Vereinigungsprozess mit umwälzenden Neuanfängen hinter dieser Republik, werden oft sofort Meinungen vertreten, die nur an die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Westdeutschland erinnern.

Was wissen wir wirklich über Gewalt im Osten dieses Landes, und was ist im Westen geworden, nach Mölln und Solingen? Was wussten wir vor der internationalen (!) Pisa-Studie über die Stärken respektive Schwächen der deutschen Schulen? Welchen Kanon des Deutschen muss einer überhaupt kennen, um hierzulande heute bestehen zu können? Einer Hysterisierung von Debatten wird insofern Vorschub geleistet, als Ideologie vor Empirie geht, als vor einem fundierten Urteil das schnelle Vor-Urteil kommt. Das allerdings erschwert logischerweise den Pragmatismus, den die Vernunft dem gebietet, der zu Lösungen kommen will, die (wenigstens) der Jetzt-Zeit angemessen sind.

Das ist nur eine These, mag man einwenden. Gleichviel, sie sollte die Wissenschaft herausfordern, der Politik und damit der Gesellschaft zur Hand zu gehen. Nicht zuletzt die lange scheel angesehenen Forschungsbereiche wie Soziologie und Kommunikationswissenschaften. Die könnten auch unterstützen oder widerlegen, was Hirnforscher festgestellt zu haben meinen: Der Mensch lasse sich einfach hysterisieren, weil er sich Gerüchte und Unbewiesenes und schlicht Tratsch schneller zu Eigen mache als Fakten und verwissenschaftlichte Abhandlungen. Die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen würde vielleicht helfen bei der Lösung auch der anderen, der grundlegenden Fragen. Die Anforderung an die Wissenschaft lautet dementsprechend. Sie sollte über Intellektualisierung zur Entideologisierung beitragen.

Damit auch genau das nicht so weitergeht, was, nebenbei gesagt, allgemein eine falsche Erwartung ist: dass an dem einen Tag über ein Ereignis geredet und berichtet wird – und am nächsten schon das endgültige Ergebnis feststeht. Wenn aber das Thema dann zurückkehrt, drei Wochen in Anspruch nimmt, sind alle enttäuscht, dass es nicht längst beendet ist? Das ist die Form der Schnelligkeit, die nicht weiterführt. Die nur zurückführt in die alten Gräben. Die ja fast schon undemokratisch wirkt.

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