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Politik: Aus Prinzip pragmatisch

Von Malte Lehming

Drei Meldungen der letzten 24 Stunden verdichten sich zu einem verstörend widersprüchlichen Bild. In den Niederlanden tritt Ayaan Hirsi Ali vor die Presse. Die aus Somalia stammende Abgeordnete fühlt sich hinausgeekelt aus ihrem Land. Für eine wie sie – integriert, islamkritisch, feministisch – gibt es keinen Platz im Herzen Europas. Kurze Zeit später trifft sich die spanische Regierung, um über die Flüchtlingskrise auf den Kanarischen Inseln zu beraten. Aus Afrika kommen die Gestrandeten, sie lassen alles zurück, riskieren Leib und Leben. Und am Abend zuvor hatte sich der amerikanische Präsident an sein Volk gewandt. George W. Bush kündigte eine umfassende Einwanderungsreform an. Tausende von Nationalgardisten sollen künftig die Grenze im Süden sichern. Gleichzeitig soll ein Großteil der etwa 12 Millionen illegal in den USA lebenden Einwanderer eingebürgert werden.

Eine diffuse Angst breitet sich im Westen aus. Was tun mit all den Ausländern, Asylanten, Flüchtlingen? In den USA, einem traditionellen Einwanderungsland, treibt die konservative Regierung das Thema mit einem hohen Maß an Pragmatismus voran. Wir brauchen diese Menschen, können sie weder ignorieren, noch wollen wir sie deportieren. Also bleibt nur eins, ihre Einbürgerung. Denn die meisten Amerikaner verstehen: Die Prinzipien des Rechts dürfen dem Gemeinwohl nicht entgegenstehen. Hirsi Ali, die nach Todesdrohungen unter Polizeischutz gestellt worden war, zieht jetzt nach Washington.

Europäer taten sich mit Einwanderung immer schon schwerer. Dabei sind ihre Probleme äußerst akut. In Deutschland etwa lebt die Hälfte aller Ausländer schon mehr als fünf Jahre im Land, ein Fünftel gar mehr als ein Vierteljahrhundert. Ihr Aufenthaltsstatus ist in sieben verschiedene Kategorien unterteilt, selbst Experten verlieren die Übersicht. Doch bei uns geht Legalität vor Allgemeininteresse. Anders ist nicht zu verstehen, warum aus Berlin zum Beispiel die gut integrierte Familie Aydin in die Türkei abgeschoben werden soll. Eine megagroße Koalition aus SPD, PDS und CDU stützt sich allein auf die Rechtslage – und spottet aller Vernunft. Hirsi Ali und Familie Aydin: zwei Fälle, dieselbe Dummheit.

Nur wer sich stark fühlt, kann sich für andere öffnen. Und nur wer sich stark fühlt, kann Grenzen setzen. Diese beiden Grundsätze müssen viele Europäer erst noch begreifen. Ihre Angst vorm Pragmatismus ist auch eine Ich-Schwäche, ein Selbstzweifel. Im Berliner Stadtteil Pankow will eine unbescholtene islamische Religionsgemeinschaft eine Moschee bauen. Ihre Mitglieder nehmen die Religionsfreiheit in Anspruch, in der es ja nicht um Toleranz geht, sondern um ein unveräußerliches Menschenrecht. Dennoch tobt der Protest, bis in bürgerliche Kreise hinein. Dabei sind die Werte, die in der Auseinandersetzung mit dem Islam verteidigt werden müssen, klar. Im Karikaturenstreit muss der aufgeklärte Humanist für die Meinungsfreiheit kämpfen, in Pankow für die Religionsfreiheit.

Das freilich bedeutet nicht, Einwanderung zu romantisieren. Integration ist harte Arbeit, für beide Seiten. Unser Land hat seine Bräuche. Wer um Mitternacht die orientalische Version des Musikantenstadls auf volle Lautstärke stellt, wird angezeigt, wer seinen Müll nicht trennt, zur Rechenschaft gezogen, wer die Schulpflicht ignoriert, bestraft. Zur Angst besteht ebenso wenig Anlass wie zur Verklärung. Für Hirsi Ali kommen diese Einsichten zu spät, für die Familie Aydin vielleicht noch nicht.

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