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Eva Edith Weinberger, von den Eltern liebevoll Évike genannt, wurde am 3. Juni 1944 in Auschwitz ermordet, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag.

© privat

Aussage im Prozess gegen Oskar Gröning: "Évike war sechs Jahre, als sie in Auschwitz ermordet wurde"

Im Lüneburger Auschwitz-Prozess sagte die kanadische Nebenklägerin Elaine Kalman Naves als Zeugin und und erzählte die Geschichte ihrer ermordeten Halbschwester. Wir dokumentieren die Aussage in Auszügen.

Ich bin überwältigt, hier in diesem Gerichtssaal zu sein, in diesem Moment der historischen Abrechnung. Ich bin hier, um die Erinnerung an Dutzende meiner Familienmitglieder zu ehren, die in Auschwitz umgekommen sind. Nie habe ich gedacht, dass ich eines Tages nach Deutschland reisen würde. Seit meiner Kindheit ist mir der Klang deutscher Ortsnamen vertraut. Gelsenkirchen, Sömmerda, Glachau, Buchenwald, Flossenbürg, Bergen-Belsen – diese Namen waren die Satzzeichen der Geschichten, die meine Eltern und ihre Freunde über den Krieg erzählt haben. Es waren Geschichten fast unvorstellbaren Schreckens.

Ich möchte dem Gericht und dem deutschen Volk dafür danken, dass Sie mir die Gelegenheit geben, zu Ihnen über den Verlust der vielen Mitglieder meiner Familie zu sprechen. Diese vielen Verwandten habe ich nie kennengelernt, denn ich wurde in den Verlust hineingeboren. Anders als die meisten anderen Nebenkläger bin ich keine Überlebende, sondern Kind zweier Überlebender. Ich wurde nach dem Krieg in Ungarn geboren, als Tochter von Eltern, die sich nach dem Krieg kennengelernt haben und die beide vor dem Krieg mit anderen Menschen verheiratet gewesen waren. Mein Vater Guszav (Guszti) Weinberger war mit einer Frau namens Margit (Mancika) Mandula verheiratet, und zusammen hatten die beiden ein kleines Mädchen namens Eva Edith (Évike) Weinberger. Ich bin hier, um vor allem über Évike zu sprechen, die meine ältere Halbschwester gewesen wäre, wäre sie nicht gemeinsam mit ihrer Mutter am 3. Juni 1944 in Auschwitz ums Leben gekommen.

Évike Weinberger war sechs Jahre alt, als sie ermordet wurde

Wie – so könnten Sie fragen – kann ich authentisch über eine Person sprechen, die ich nicht gekannt habe? Das ist eine gute Frage. Irgendwie ist Évike gleichzeitig meine Schwester und nicht meine Schwester. Sie ist meine Schwester, weil sie die Tochter meines Vaters war, aber es ist natürlich ausgeschlossen, dass ich zu ihr jene Art von Beziehung habe, die man mit Geschwistern hat, mit denen man gemeinsam aufwächst. Und doch ist Évike eine einzigartige Präsenz in meinem Leben. Das ist sie seit dem Moment, in dem ich im November 1947 auf die Welt gekommen bin. Ich war ungefähr sechs Jahre alt, als ich zum ersten Mal wirklich verstanden habe, wer Évike war, und sie war sechs Jahre alt, als sie ermordet wurde.

Évike kam am 19. April 1938 in der Stadt Debrecen auf die Welt, als sehr ersehntes und sehr geliebtes einziges Kind von Guszti und Mancika. Sie waren wohlhabende, hart arbeitende, modern-orthodoxe, gebildete Juden, die im ungarischen Lebensalltag vollständig integriert waren. Guszti und seine zwei Brüder waren in dritter Generation Landwirte auf einem Gut in Nordostungarn, in einem Dorf namens Vaja. Mancika war eine kultivierte, gut ausgebildete junge Frau, die ein Pensionat in der Schweiz besucht hatte. Évikes Kindheit war eine Zeit voller dunkler und bedrohlicher Ereignisse in der weiteren Welt: antijüdische Gesetze in Ungarn, die sogenannte „Kristallnacht“ in Deutschland und Österreich und der Ausbruch des Krieges. Guszti war häufig weg von zu Hause, weil er in einem der Arbeitskommandos dienen musste, zu denen jüdische ungarische Männer eingezogen wurden. Aus diesem Grund zogen Évike und Mancika in das Gutshaus der Familie in Vaja, wo mein Vater selbst aufgewachsen war und wo auch meine Großeltern lebten, ebenso wie mein Onkel Pal, seine Frau Mary und deren kleine Tochter Marika. Der ernsten Lage zum Trotz blieb das Leben für sie alle relativ normal – bis etwa einen Monat vor Évikes sechstem Geburtstag: relativ normal bis zum 19. März 1944.

"Fotoalben von den toten Familien meines Vaters und meiner Mutter"

So weit wie meine Erinnerung zurückreicht, so weit reicht auch mein Wissen um Évike. Fotos von ihr säumten die Wände der Wohnung, in der ich in Budapest aufgewachsen bin – auch die Wände des Zimmers, in dem ich geschlafen habe. Es gab Alben, Fotoalben, von der toten Familie meines Vaters und von der toten Familie meiner Mutter. Ich habe Erinnerungen an mich selbst ab einem sehr frühen Alter, wie ich ihre Alben durchblättere und nach den Namen der abgebildeten Menschen frage. Ich erinnere mich sogar, wie meine Mutter lächelt und sagt, ich hätte dieselben abstehenden Ohren und O-Beine wie Évike und dass wir das beides von unserem Vater geerbt hätten.

Die kanadische Nebenklägerin Elaine Kalman Naves sagte im Prozess gegen Oskar Gröning aus.
Die kanadische Nebenklägerin Elaine Kalman Naves sagte im Prozess gegen Oskar Gröning aus.

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Mein Vater war ein wunderbarer Geschichtenerzähler, der es liebte, über die Familie zu sprechen, aus der er stammte. Zu meinen ersten Erinnerungen gehört, dass er mir Geschichten von seiner Familie erzählt – das waren ausnahmslos fröhliche Geschichten. Dennoch leitete er sie mit den Worten ein: „Du tust mir leid, denn du weißt nicht, wie es ist, Großeltern zu haben. Du tust mir leid, denn deine Welt beginnt nur mit mir und mit deiner Mama.“ Ich habe überhaupt nicht verstanden, was er meinte. Ich wollte nicht, dass er mit mir Mitleid empfand. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Aber natürlich hatte er recht. Ich hatte keine Großeltern. Die Eltern meines Vaters und die Eltern meiner Mutter waren alle in Auschwitz ums Leben gekommen. Und die meisten meiner Tanten und Onkel waren ebenfalls ermordet worden.

Als ich heranwuchs, erfuhr ich mehr über Évike. Sie war ein herzensgutes, eher schüchternes und zurückhaltendes Mädchen. Dabei war sie außerordentlich intelligent, und obwohl sie zu jung war, um schon die Schule besucht zu haben, hatte sie sich mit ihren Vorlesebüchern und der Tageszeitung selbst Lesen und Schreiben beigebracht. Das ist für Évikes Geschichte wichtig. Denn weil sie lesen und schreiben gelernt hatte, sind wir in der Lage, aus ihren eigenen Worten ein wenig über sie zu wissen.

Der Vater bewahrte 150 Briefe seiner ermordeten Verwandten auf

In der Familie meines Vaters herrschten enger Zusammenhalt und große gegenseitige Liebe. Er selbst und seine zwei Brüder wurden von ihren Angehörigen auch unterstützt, als sie im Krieg den Sklavenarbeitsdienst leisten mussten. Von zu Hause erhielten sie Päckchen mit Essen und Kleidung, außerdem viele, viele Briefe. Im Jahr 1944 allein hat mein Vater von seiner Familie mehr als 150 Briefe und Postkarten erhalten. Ich weiß das, weil mein Vater sie alle aufbewahrt hat: Durch alle Torturen, die er während des Krieges erlitten hat, konnte er die Briefe in seinem Rucksack mit sich tragen. Diese Briefe stammten von seiner Mutter, von seinem Vater und von seiner Ehefrau und, ja, von seinem kleinen Mädchen Évike.

Viele Jahre später, als er merkte, dass ich ein Buch über die Familie schreiben wollte, erzählte mein Vater mir, dass er diese Briefe noch hatte. Ich fing an, sie mit ihm gemeinsam zu lesen. Sie waren alle auf Ungarisch, deswegen fing ich an, sie ins Englische zu übersetzen. Und während ich das machte, hatte ich eine Art Zusammenbruch. Die Arbeit mit den Briefen lähmte mich, fast buchstäblich. Monatelang war ich nicht in der Lage zu funktionieren – wegen der Wirkung, die diese Briefe auf mich hatten. Weil diese Briefe von den Menschen stammten, von denen mein Vater mir erzählt hatte, seitdem ich sehr jung gewesen war. Und als ich die Briefe las, ging mir auf, wie recht er gehabt hatte, denn in der Tat war es sehr traurig, dass ich meine Großeltern nie kennengelernt hatte. Und hier waren sie auf einmal, in diesen Briefen. Ich konnte das Papier berühren, das auch meine Großmutter in der Hand gehabt hatte, und mein Großvater ebenfalls. Ich konnte sehen, welch gute Menschen sie gewesen waren, wie mutig, wie sehr voller Hoffnung und Entschlossenheit, einander nach der Katastrophe wiederzufinden. Immer wieder hatten sie meinem Vater ermutigende Botschaften geschickt, die ich nun mit eigenen Augen lesen konnte. Und ich wusste, was sie nicht wussten, was sie nicht wissen konnten. Ich wusste, ich wusste, dass die Geschichte sie verschlingen würde. Ich wusste, dass sie alle auf dem Weg nach Auschwitz waren.

"Ich küsse dich viele Male", schrieb Évike unter alle Briefe an den Vater

Eva Edith Weinberger, von den Eltern liebevoll Évike genannt, wurde am 3. Juni 1944 in Auschwitz ermordet, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag.
Eva Edith Weinberger, von den Eltern liebevoll Évike genannt, wurde am 3. Juni 1944 in Auschwitz ermordet, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag.

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Évikes Zettelchen und Briefe wurden mit denen der Erwachsenen geschickt. Sie schrieb auf verziertem Kinderbriefpapier. Miniaturbriefumschläge enthielten Évikes erste schriftliche Mitteilungen an ihren liebsten Menschen in der Welt. In Blockbuchstaben, die alle ineinander übergingen, schrieb sie Nachrichten, die von ihrer Liebe und ihrem Vertrauen in ihren Papa künden. Offenkundig vergötterte sie ihn: Sie hatte sowohl ihren Teddy als auch ihre Lieblingspuppe nach ihm benannt. In ihren Notizen schickt sie ihm Witze und beschreibt ihre jüngsten Erfolge und Aktivitäten. In einer erzählt sie, dass sie ihren ersten Zahn verloren habe. In einem anderen Brief teilt sie mit, dass sie gut auf ihre Mama aufpasse und ihrem Teddy einen Hut gehäkelt habe. Und alle Briefe unterschreibt sie mit: ICH KÜSSE DICH VIELE MALE DEINE ÉVIKE

Es waren drei Generationen der Familie Weinberger, die am 25. April 1944 gezwungen wurden, ihr Zuhause in Richtung des Ghettos in Kisvarda zu verlassen. Évike hatte sechs Tage vorher ihren sechsten Geburtstag gefeiert. An jenem 19. April schrieb ihre Mutter an Guszti, dass sie dabei seien, ihre Taschen zu packen und dass es schwierig sei einzuschätzen, was sie mitnehmen sollten. Sie war besonders bestürzt, ihren Ehering hergeben zu müssen, doch sie schrieb: „Du wirst mir eines Tages einen neuen kaufen, wenn, so Gott will, wir uns noch einmal wiedertreffen. Heute hat das liebste Kind Geburtstag, wir haben ihr unter Tränen gratuliert, und ich hoffe, dass sie all ihre zukünftigen Geburtstage unter glücklicheren Umständen verleben wird als den heutigen, bis sie 120 Jahre alt ist.“ Bis 120, hat Évikes Mutter geschrieben. Das ist der traditionelle jüdische Glückwunsch, wenn jemand Geburtstag hat. Évike und Mancika würden beide 45 Tage später sterben, am 3. Juni 1944.

Die Familie schrieb meinem Vater ein weiteres Mal, einen langen Abschiedsbrief am 23. April. Évike fügte ihre eigenen Grüße hinzu: MEIN GELIEBTER APUKA WIE GEHT ES DIR MIR GEHT ES GOTTSEIDANK GUT, ICH DANKE DIR SEHR HERZLICH FÜR DIE GEBURTSTAGSWÜNSCHE. ES TUT MIR SEHR LEID DASS WIR NICHT ZUSAMMEN SEIN KÖNNEN DICH SEHR VIELE MALE KÜSSEND DEINE ÉVIKE

Im Viehwaggon fragt Évike immer wieder, wo sie hinfahren

Wir wissen, welche ihrer Sachen sie ausgesucht hat, um sie ins Ghetto mitzunehmen. In demselben Abschiedsbrief schrieb ihre Mutter, dass sie alle dabei seien, ihre Pakete für die große Reise zu packen. „Meine arme kleine Évike hat auch ihren Guszti-Teddy und ein Buch eingepackt, damit ich beides für sie mitnehme.“

Der Viehwagen, der die Familie Weinberger aus der nordostungarischen Ghettostadt Kisvarda geholt hat, enthielt 34 Angehörige meiner Familie, von denen zwei den Krieg überlebt haben. Eine dieser zwei Überlebenden war eine Cousine meines Vaters, Susan Rochlitz Szoke. Sie war damals 19 Jahre alt und durch die Schrecken der Reise völlig traumatisiert. Und doch erinnerte sie sich später deutlich an Mancika und Évike im Waggon. Évike war gereizt, müde und durstig und konnte nicht verstehen, was los war. Sie fragte immer und immer wieder, wo sie hinführen. Und Mancika wiederholte immer und immer wieder, mit nicht zu erschöpfender Geduld: „Wir fahren an einen Ort, wo wir zusammen arbeiten werden, bis wir mit Apu (Papa) zusammen sind. Vielleicht wartet er dort schon auf uns. Wir fahren dorthin, wo du Apu sehen wirst.“

Wir wissen alle, was als Nächstes passiert ist. Es war nicht mein Vater, der sie in Auschwitz an der Rampe abholte. Ich kann es nicht ertragen, das in Worte zu fassen, wovon ich weiß, dass es anschließend geschehen ist.

Ich bin gebeten worden, über die Auswirkungen des Holocaust auf mich zu sprechen, darüber, welchen Schaden er mir zugefügt hat. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, stellt mich vor ein Dilemma. Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um Ihr Mitleid zu erregen. Ich sehe mich selbst nicht als beschädigte Person. Ich bin ein zufriedener Mensch, und ich habe ein erfülltes Leben. Es wäre ethisch falsch, mich in einem Gerichtssaal, in dem Sie von Überlebenden hören, als Opfer zu bezeichnen. Ich bin keine Überlebende des Holocaust; ich bin drei Jahre nach den Ereignissen, die wir beschreiben, zur Welt gekommen. Jeder Schmerz, den ich erlitten habe, kann mit ihrem Leid nicht verglichen werden.

Wenn ich aber zu mir selbst und zu Ihnen ehrlich bin, dann muss ich der Tatsache ins Gesicht sehen, dass die Auswirkungen des Holocaust auf mich grundlegend waren und sind. Schon die Umstände meiner Geburt fußen auf dem Tod anderer. Wären Évike und ihre Mutter am Leben gewesen, wäre ich nicht als Ich geboren worden.

An jüdischen Feiertagen saßen nur noch vier am Tisch

Meine Eltern haben sich und ihren Kindern trotz ihrer Trauer und trotz des ungeheuerlichen Ausmaßes ihrer Verluste später in einem neuen Land ein stabiles neues Leben aufgebaut. Während sie das taten, haben sie ihre Angehörigen aus ihren früheren Leben nie vergessen, ebenso wenig wie das, was diesen Angehörigen zugestoßen ist. Meinen Eltern war es wichtig, uns ein großes Vermächtnis an familiären Erinnerungen zu übermitteln.

In den prägenden Jahren meines Lebens bestanden die jüdischen Feiertage darin, an einem Vierertisch zu sitzen, mein Vater, meine Mutter, meine Schwester Judy und ich. Der Tisch war immer festlich gedeckt, und wir aßen etwas Gutes, und dabei schwelgten mein Vater und meine Mutter jedes Mal in Erinnerungen darüber, wie der jeweilige Feiertag vor dem Krieg gewesen war. Sie erzählten von den vielen Leuten, die damals, zu Hause, um den großen Esstisch versammelt gewesen waren, und von den riesigen Mengen köstlichen und traditionellen Essens. Es war, als sei der Holocaust ein Besucher, der unser Essen mit uns teilte.

Wenn sich heutzutage meine Familie trifft, um die jüdischen Feiertage zu begehen, und im Besonderen Pessach, ein Fest, das an die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten erinnert, sind wieder drei Generationen um eine sehr lange Tafel versammelt. Der Glaubenstext zum Pessach, die Haggadah, enthält einen Abschnitt, nach dem sich Juden in jeder Generation fühlen müssen, als seien sie selbst aus der Sklaverei befreit worden. In der Ära, in der bei uns mein Vater die Zeremonie am Auftaktabend des Pessach-Festes, am Seder, geleitet hat, hat er bei diesem Abschnitt immer innegehalten. Er bemerkte dann, dass es sich dabei nicht um irgendeine entfernte Sache handele, die vor Tausenden von Jahren geschehen sei. Er sagte, dass er und meine Mutter in unserem Zeitalter eine Sklaverei erfahren hatten, die unvergleichlich grausamer gewesen war als alles, was im Zeitalter der Pharaonen geschehen war. Und er hielt uns an, niemals zu vergessen, unsere Freiheit wie auch die Freiheit von anderen bis zu unserem letzten Atemzug zu verteidigen.

"Sie waren nicht nur Zahlen in einer Statistik"

Ich glaube, dass es das ist, was ich dem Gericht sagen möchte, dass es das ist, weshalb ich hergekommen bin: dass Gerechtigkeit und Freiheit unsere höchsten gesellschaftlichen Werte sind. Sie müssen als ebenso kostbar betrachtet werden wie das Leben selbst.

Dass ich die Gelegenheit bekomme, an diesem Ort die Geschichte meiner Familie zu erzählen – die Gelegenheit, Ihnen von Évike, Mancika und meinen Großeltern zu berichten –, ist eine Bestätigung, dass ihre Leben, die auf so grausame Weise abgebrochen wurden, von Bedeutung waren. Sie waren nicht nur Zahlen in einer Statistik, sie waren aus Fleisch und Blut, sie waren Individuen mit Persönlichkeiten, Temperamenten, Schwächen und Stärken. Es gibt keine Möglichkeit, zurückzugehen, um die Katastrophe, die sie ereilt hat, ungeschehen zu machen. Es gibt keine Möglichkeit, zu reparieren, was ihnen widerfahren ist.

Aber das ungeheure Ausmaß dessen, was ihnen widerfahren ist, in diesem Gerichtssaal und vor der Welt anzuerkennen, ist Quelle eines gewissen Trostes.

Die kanadische Nebenklägerin Elaine Kalman Naves sagte im Prozess gegen Oskar Gröning aus.
Die kanadische Nebenklägerin Elaine Kalman Naves sagte im Prozess gegen Oskar Gröning aus.

© privat

Ein Buch über den Holocaust wollte Elaine Kalman Naves eigentlich nie schreiben. Sie war auf der Suche nach der Geschichte ihrer Familie, wollte mehr über die Menschen erfahren, deren Fotos sie seit der Kindheit umgaben und die sie nie kennengelernt hat. Doch dann zeigte ihr Vater ihr die Briefe ihrer in Auschwitz ermordeten Verwandten. In ihrem Buch „Journey to Vaja“ (Reise nach Vaja) zeichnete sie die Geschichte ihrer ungarisch-jüdischen Familie über zwei Jahrhunderte nach. Kalman Naves wurde 1947 als Kind von Holocaust-Überlebenden in Budapest geboren. Später ging die Familie über Großbritannien nach Kanada. Heute lebt die Autorin und Kolumnistin in Montreal. Im Prozess gegen Oskar Gröning ist sie Nebenklägerin.

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