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Politik: Ausweitung der Protestzone

Demonstrationen nicht nur in Teheran / Wähler Mussawis üben zivilen Ungehorsam – wie einst die Anhänger Chomeinis

Plötzlich verlieren die Basij-Milizionäre die Nerven. Vom Dach ihrer Unterkunft schießen sie in die Menge. Ein Demonstrant stirbt, andere gehen schwer verletzt zu Boden. In Panik suchen die Menschen hinter Bäumen und Autos Deckung – die Unruhen im Iran forderten am Montagabend ihr erstes Todesopfer. Dabei hatte alles so friedlich angefangen, auf dem Freiheitsboulevard im Zentrum Teherans, der den Revolutionsplatz nahe der Universität mit dem Freiheitsplatz verbindet. Regungslos ließen die schwarzen Hundertschaften der Polizei die Menschen mit ihren grünen Schals passieren. Aus allen Himmelsrichtungen strömten sie zusammen – Frauen und Männer, Junge und Alte, sogar Schwangere. Auf mindestens eine Million schätzte die Polizei am Ende die Zahl der Teilnehmer, die sich rund um das gigantische „Tor zum Iran“ versammelt hatten – von Schah Reza Pahlevi 1971 anlässlich der 2500-Jahrfeier von Persien gebaut. Sie alle fühlen sich von dem Regime betrogen. Einige „umstürzlerische Elemente wollen eine Demonstration abhalten“, hieß es zuvor von der Regierung. Dafür gebe es keine Genehmigung – und wer sich widersetze, „handelt illegal und muss mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen“.

Doch die Demonstranten wollen sich ihre Präsenz im Stadtbild nicht nehmen lassen. „Lang lebe Mussawi“ skandierten sie und „Mussawi, wir unterstützen dich“, als der grauhaarige Politiker und seine Frau Zahra Rahnavard in einem Allrad-Fahrzeug am Rande des runden Platzes auftauchten. „Wenn es eine Neuwahl gibt, ich werde wieder kandidieren“, rief der Umjubelte vom Dach des Wagens in die Menge herab. „Und so Gott will, werden wir uns unser Recht zurückholen“.

An diesem Tag erlebte der Iran die erste Montagsdemonstration seiner Geschichte – die persische Variante von „Wir sind das Volk“. Was als perfekt inszenierter Wahlcoup für Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad geplant war, entwickelt sich inzwischen zur tiefsten Legitimationskrise der Islamischen Republik seit ihrer Gründung. Nicht nur Politiker und Künstler, auch immer mehr Geistliche scharen sich hinter Mir–Hossein Mussawi. „Nur eine Neuwahl kann die Menschen beruhigen, das wird auch Ahmadinedschad bald einsehen müssen“, meinte ein Universitätsprofessor am Rande der Kundgebung. Und sobald die Sonne untergeht, verlagert sich das Geschehen inzwischen von der Straße auf die Dächer und Balkone. „Tod dem Diktator“ und „Allah ist groß“ tönt es hinunter in die Häuserschluchten. Abend für Abend schreien zehntausende Menschen ihren Frust in die Nacht hinaus. Genau um 21 Uhr beginne dieser ungewöhnliche Protestgesang, berichtet ein Blogger aus seinem Viertel – „gelegentlich unterbrochen durch das Krachen von Schüssen oder Tränengasgranaten.“

Auch wenn viele Anhänger von Mussawi so jung sind, dass sie Revolutionsführer Ajatollah Chomeini nur von Fotos kennen. Ausgerechnet sie lassen jetzt seine Formen des zivilen Widerstands wiederaufleben. Chomeini war es, der vor dreißig Jahren die Iraner aufrief, von den Dächern herunter mit „Allah ist groß“ Schah Reza Pahlevi von der Macht zu vertreiben. Und was damals ging, zeigt auch heute Wirkung. Keine 24 Stunden nach dem „großen Siegesfest“ mit seinen Anhängern sagte Mahmud Ahmadinedschad am Montag überraschend seine Reise nach Moskau ab. Revolutionsführer Ali Chamenei, der den Sieg seines politischen Zöglings am Samstag noch als „göttliche Fügung“ gepriesen hatte, sah sich sogar genötigt, eine „genaue Überprüfung“ der Betrugsvorwürfe des angeblich unterlegenen Gegenkandidaten Mussawi anzuordnen. Dieser hatte am Sonntag zusammen mit dem Hardliner Mohsen Rezai offiziell Einspruch bei Wächterrat eingelegt. Für Mussawi ist der Sieg von Amtsinhaber Ahmadinedschad „Lug und Trug“, für den früheren Chef der Revolutionären Garden stellt er eine „Erniedrigung des Volkes“ dar.

Und das lässt sich immer weniger beruhigen. Von Teheran aus greifen die Unruhen inzwischen auf andere Städte über. Im Internet sammeln sich die Videos grüner Mussawi-Anhänger, die aus allen Winkeln des Landes kommen. Ob in Schiras im Süden, in Isfahan im Zentrum, in Tabriz im Norden oder in Rasht am Kaspischen Meer – überall gehen die Menschen auf die Straße und fordern eine Annullierung der Präsidentenwahl. Doch so leicht gibt das Regime nicht klein bei: In Teheran verwüsteten Polizei und Milizionäre in der Nacht zu Montag den Campus der größten Universität. Fotos auf Facebook und Twitter zeigen blutüberströmte Opfer auf ihren Betten, eingetretene Türen, zertrümmerte Computer und brennende Autos. Sogar mit Äxten seien die Schläger auf sie losgegangen, berichteten schockierte Studenten am nächsten Morgen. „Viele wollen zu ihren Familien flüchten, sie haben große Angst”, sagte der 25-jährige Ali gegenüber einem lokalen Reporter. „Aber andere werden bleiben. Die Polizei und die Milizen haben uns gedroht, sie kommen wieder – und dann verhaften sie jeden, den sie noch antreffen.“

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