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Dagmar Manzels Garderobe am Deutschen Theater ist ein guter Ort, um über ihre Autobiografie zu sprechen.

© Stephanie Pilick / dpa

Autobiografie "Menschenskind": Dagmar Manzel, Herrin der Lage

Fliegen und dabei aus der Hüfte schießen, solche Momente hat sie auf der Bühne. Im echten Leben singt Dagmar Manzel Requiem für sterbende Meerschweinchen.

Ist sie das? Umwabert von etwas kariert Filzigem, das Enthusiasten wohl Mantel nennen würden, unfassbare Treter an den Füßen und auf dem Kopf etwas Gräuliches, hinten viel zu Langes, das zum letzten Mal vor 50 Jahren in Mode gewesen sein muss. Damals haben die Mädchen das Mützensackende mit Zellophantüten ausgestopft. Und dann der Gang, mein Gott, was für ein Gang, sagen wir: robust. Das ist die Retterin der Operette, die gefeierte Cleopatra, Königin von Ägypten, Tochter des Nils? Das ist die Großherzogin von Gerolstein und Maria Stuart, Königin von Schottland, Kriemhild, die Herrin der Rache und was der Regentinnen mehr sind? Diven sehen anders aus.

Jetzt ist einiges klar. Wenn Theaterbesucher am Bühneneingang auf sie warten und sie beim Rausgehen fragen, ob denn die Manzel auch bald komme, sagt sie manchmal: „Nee, ich glaub, die is schon weg!“ Andererseits kann es ihr passieren, dass sie gar nicht erst ins Theater reingelassen wird.

„Was wollen Sie denn hier?“, fragte mal ein Pförtner. „Rein!“, antwortete Dagmar Manzel wahrheitsgemäß. „Das will jeder!“, entgegnete kühl der Hüter der Pforte. Gut, gab sie nach und verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, dass er ihren Text gut gelernt habe. Da dachte er noch einmal nach.

Diesmal kommt sie ohne Schwierigkeiten am Einlass vorbei. Zu ihren Freunden zählen längst auch Pförtner, das ist noch nicht bei allen Diven so. Wir gehen in meine Garderobe!, hatte sie gesagt. In diesen Tagen erscheint ihr Buch, dem sie den Titel „Menschenskind“ gegeben hat. So hieß schon ihr Friedrich-Hollaender-Programm.

„Menschenskind“. Genauer lässt sich unsere prekäre Stellung in der Welt gar nicht angeben, schöner auch nicht, glaubt Dagmar Manzel. Das Buch ist eine Autobiografie in Gesprächen mit dem Filmkritiker und Autor Knut Elstermann.

Sie kann alle Minusgrade der Seele spielen

Über etwas so Persönliches muss man an einem sehr persönlichen Ort reden. Und welcher könnte das mehr sein als ihre Garderobe seit über 30 Jahren: Wie viele Lampenfieber hat sie hier ausgehalten. Ihr Blick fällt zuerst auf die alte schöne Liege: Hier habe ich schon meine Tochter gewickelt!, sagt sie leise, das war 1983. Es ist noch fast das Originalmobiliar, 100 Jahre alt. Natürlich wollten Menschen, die gewohnt sind, mit der Zeit gehen, es schon längst herausreißen. Da erhob sich ein Sturm der Entrüstung bei den Inhabern. Mit der Zeit gehen? Aber doch nicht in meiner Garderobe! Da richtet sich die Zeit nach mir und steht still.

Die Frau mit der Mütze macht das Seitenlicht an den Spiegeln an, die zwei Flügel haben wie ein Altar. Sie liebt dieses Licht. Vor den Fenstern liegt nachmittagsstill der Hof des Deutschen Theaters. Sie kann alle Minusgrade der Seele spielen, sie kann in einem einzigen Satz die Temperatur um zehn Grad fallen lassen, ja, sie kann die Menschen neben sich in Eiszapfen verwandeln. Das ist auf böse Weise komisch: Dagmar Manzel, die Herrin der Lage. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, hat der Staatsrechtler Carl Schmitt gesagt. Sie ist der Souverän, stellvertretend für uns, nicht zuletzt dafür wird sie geliebt.

Umso schockierender jedes Mal wieder die Erkenntnis, dass sie jenseits der Bühne, jenseits der Kamera wohl nicht einmal jene mittlere Gemütslage erlangt, in der Menschen gewöhnlich miteinander verkehren und die man auch die zivilisatorische Grundhärte des westlichen Menschen genannt hat, so eine tendenzielle Unbelangbarkeit.

Die Prüfungskommission lag unterm Tisch vor Lachen

Das Albino-Meerschweinchen ihrer Tochter hieß Magdalena. Und als für Magdalena die Zeit herankam, in den großen Meerschweinhimmel einzugehen, saßen Mutter und Tochter weinend vor Magdalena und trugen ihr unter Tränen Lieder vor. Doch die Sängerin des Requiems für ein Nagetier hatte einen wichtigen Termin bei ihrem Intendanten, es ging um Perspektiven, ihre eigene und die des Hauses. Aber statt sie selbst durch die Tür kommen zu sehen, hörte der erstaunte Intendant Thomas Langhoff nur die zittrige Stimme seiner Darstellerin am Telefon: „Ich kann nicht, unser Schwein stirbt!“

Dagmar Manzels Augen werden schießschartenschmal, wie so oft. Sie trägt das Kind, das sie einmal war, gleich unter der Haut. So geht sie in Deckung vor der Welt, vor den eigenen Schwächen, so bereitet sie sich auf die nächste Attacke vor. Humor ist Notwehr, so ist das. Oder ist da noch was?

Die Ureinwohnerin von Berlin-Friedrichshagen bewarb sich ohne Wissen ihrer Lehrer-Eltern mit dem Monolog der Luise aus Schillers „Kabale und Liebe“ an der Berliner Schauspielschule: „Hat unsre Seele nur eenmal Entsetzen jenuch in sich jetrunken, so wird dit Ooge in jedem Winkel Jespenster sehn.“ Die Prüfungskommission lag unterm Tisch vor Lachen.

Im Dezember hatten „Die Perlen der Cleopatra“ an der Komischen Oper Premiere, die Tochter des Nils durfte wieder gnadenlos berlinern. Operetten, und gerade die der jüdischen Komponisten der Weimarer Republik, sind Hybridbildungen wie sie selbst, ironisch-selbstironisch durch und durch.

Mit 43 wurde sie zur großen Verführerin

Dagmar Manzel spricht und singt abwechselnd die Cleopatra und deren Pyramidenmauskatze Ingeborg, eine entfernte Verwandte von Magdalena. Cleopatras Hauptproblem ist das von uns allen: „Ich kommandiere des Niles Fluten/ und mit den herrlichsten Valuten/ sind angefüllt die Pyramiden/ und trotzdem bin ich nicht zufrieden.“ Die nächste Vorstellung ist im Juli und bereits ausverkauft. Gerade kommt sie von den Wiederaufnahmeproben zu „Ball im Savoy“, wo sie fast drei Akte lang ihren notorisch fremdgehenden Ehemann sucht, währenddessen Orchester und Chöre alles an Opulenz aufbieten: Wir haben weiß Gott nichts zu feiern, aber das feiern wir bis zur letzten Note, bis zum letzten Tropfen. Mit 43 Jahren, wenn andere endgültig aufhören, hat die Schauspielerin Dagmar Manzel 2001 die Bühne des Musiktheaters erobert und wurde zur großen Verführerin. Davor wusste eigentlich keiner, dass sie singen kann. Sie auch nicht.

Und hier am Deutschen Theater fing alles an und es währt bis heute, bis zu „Gift“, das sie seit 2013 vor ausverkauftem Haus mit Ulrich Matthes spielt: „Ich sehe mich noch immer als Schauspielerin, als singende Schauspielern und das meiste von dem, was ich kann, habe ich hier gelernt.“ Die Grundqualifikation: zwei vollkommen gegenläufige Emotionen zur gleichen Zeit spielen können und sich selbst von außen dabei zuschauen.

Man mag sich die Anfängerin gar nicht vorstellen, wie sie diese Garderobe zum ersten Mal betrat. Wie die Mitglieder des Clubs der veritablen Giftmörderinnen, auch DT-Schauspielerinnen genannt, Inge Keller, Jutta Wachowiak, Christine Schorn, Käthe Reichel und die anderen die Neue begutachteten. Da kommt eine, die war in Dresden schon die „Maria Stuart“ und glaubt, sie sei eine Schauspielerin? Was macht die in meiner Garderobe?, fragte sich Jutta Wachowiak.

{"Ich bin eine Zumutung auf der Bühne für jeden Kollegen.“}

Dagmar Manzels Garderobe am Deutschen Theater ist ein guter Ort, um über ihre Autobiografie zu sprechen.
Dagmar Manzels Garderobe am Deutschen Theater ist ein guter Ort, um über ihre Autobiografie zu sprechen.

© Stephanie Pilick / dpa

Doch das Wunder geschah. Die Unstürzbaren sahen, dass hier eine war wie sie, bloß unmöglich angezogen: Eine, die mit Worten töten kann. Und mit Worten Tote aufwecken. Da wurden sie fürsorglich. Gibt es etwas Rührenderes?

Und so waren Vertreterinnen dieses Zirkels auch zugegen, als Dagmar Manzel in der letzten Woche auf der Berlinale die „Paula“ bekam. Für ihre Filme, von „Coming out“ bis „Kelly Bastian - Geschichte einer Hoffnung“, von „Schtonk“ bis zu den großen Mehrteilern „Der Laden“ und „Klemperer - Ein Leben in Deutschland“, nicht zu vergessen jene, die ihr am unverlierbarsten sind wie „Die Unsichtbare“ von Christian Schwochow.

Sie legt den Mantel ab und sitzt nun vor ihrem Spiegel in einem weißen Strickpullover, zu dessen Vorteil man sagen kann, dass er gewiss warm hält. Seit mehr als 30 Jahren schaut sie in diesen Spiegel. Die 30 Jahre haben ihm nichts anhaben können. Und ihr?

Spiegel, Spekulum. Spekuliert also, wer in den Spiegel sieht? Zur erworbenen Dummheit unseres Zeitalters gehört, dass wir bei dem Wort Spekulation zuerst und zuletzt an riskante Anleihen denken. Aber es bedeutet, sich mit den Augen der Zukunft und der Vergangenheit zugleich betrachten zu können. Und genau das macht sie in dem Gesprächsbuch mit Knut Elstermann, das macht sie auch jetzt.

Da ist so eine Unbedingtheit in ihr, die stärkt sie und schwächt sie zugleich, die hatte sie schon immer. Eine Autobiografie schaut zurück. Aber sie schaut doch gar nicht zurück, sie schaut nach vorn! Andererseits schaute sie schon mit Anfang 20 zurück, damals schrieb sie den Abschiedsbrief einer gescheiterten Schauspielerin, nachdem sie sich zum ersten Mal im Fernsehen gesehen hatte: „Ich bin eine Zumutung auf der Bühne für jeden Kollegen.“ Und für das Publikum. Sie kündige.

Unsterblichkeit? Manzel kennt auch den entgegengesetzten Pol

Danach rief sie ihre Eltern an und teilte ihnen mit, dass sie sich jetzt das Leben nehmen müsse. Sie sei ein Irrtum, und Irrtümer müssen beseitigt werden, so einfach. Ihr Vater antwortete: „Ich bestelle jetzt ein Taxi und komme nach Karl-Marx-Stadt!“ In der DDR mit einem Taxi quer durchs Land zu fahren - vorausgesetzt, man bekam überhaupt eins - war eine vollkommen absurde Vorstellung, so absurd, dass die Suizidkandidatin sofort wieder auf der Unterlage aufschlug, die man auch den Boden der Tatsachen nennt.

Sie liebte ihren Vater. Er war als Kommunist aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. Sie liebte Paul Manzel so sehr, dass sie an ihrem 18. Geburtstag ihm zu Ehren in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands eintrat. „Ja, das habe ich gemacht“, bekräftigt sie, geleitet von der Überzeugung, dass der Kommunismus ungefähr so sein musste wie ihr Vater. Doch an der Schauspielschule machte sie eine merkwürdige Beobachtung: „Seltsam war, dass alle, die ich mochte, eher gegen die DDR waren, und die, die ich nicht so mochte, waren dafür!“ Also trat sie wieder aus der SED aus, was insofern schwierig war, weil man aus dieser Partei gar nicht austreten konnte, sondern von den empörten Genossen in hohem Bogen rausgeworfen werden musste, wegen Unwürdigkeit. Das kriegte sie hin: „Außerdem hatte ich die katholische Kirche für mich entdeckt.“ Ein Scherz? „Nein, ich bin ein gläubiger Mensch“, erklärt Dagmar Manzel und sieht plötzlich aus wie Cleopatra, die gerade eine Regierungserklärung abgibt.

Als Kind spielte sie hinter ihrem Elternhaus auf dem Hof neben den Mülltonnen, die Mutter rief sie, aber sie hörte nichts: „Ich war völlig versunken, befand mich im wohligen Einklang mit mir und der Welt und spürte die Gewissheit, fliegen zu können, wenn ich wollte.“

Fliegen und dabei aus der Hüfte schießen. Solche Augenblicke, vollkommen gespannt und entspannt zugleich, hat sie auf der Bühne. Das ist die Unsterblichkeit zu Lebzeiten, mag sein, es gibt keine andere. Natürlich ist das eine religiöse Erfahrung, die Psychologen nennen es in ihrer erkältend-profanen Art den „Flow“. Unsterblichkeit? Sie kennt auch den entgegengesetzten Pol.

Dem Arzt erklärte sie, was sie alles noch zu spielen habe

Dagmar Manzel war krank, sehr krank, das ist nun einige Jahre her, darum kann sie jetzt darüber reden, damals konnte sie es nicht. Dem Arzt erklärte sie, was sie alles noch zu spielen habe, etwa die vier ausverkauften Vorstellungen von „Kiss me, Kate“. Noch nie habe sie ein Publikum sitzen lassen! Für lebensbedrohliche Krankheiten habe sie absolut keine Zeit, daraufhin gab ihr der Arzt Einblick in den Zeitplan des Krebses. Sie einigten sich auf einen Kompromiss.

Die Operation wurde verschoben, sie spielte die letzten vier Vorstellungen. Niemand am Haus erfuhr etwas, nur ihre Maskenbildnerin. Der Gedanke, dass sich in das Urteil über sie Rücksichtnahme, gar Mitleid mischen könne, schien ihr unerträglich. Am Schluss stand sie mit dem Ensemble auf der Bühne, viele mussten weinen, weil jetzt Februar war und die nächsten „Kates“ für den Oktober angesetzt waren. Auch ihr kamen die Tränen. Wer weiß, wo sie im Oktober sein würde. „Meine Tochter holte mich nach dieser Vorstellung ab. Am nächsten Morgen lag ich auf dem OP-Tisch.“

Sie hat es geschafft. Und da es anderen helfen kann, das zu hören, schweigt sie nicht mehr darüber. Das Leben hat sehr viel Sinn für miserable Pointen. Von einer bayrischen Filmproduzentin ließ sie sich zur „Tatort“-Kommissarin überreden, weil sie beide die gleichen Filme mochten und weil sie auf jeden ihrer Wünsche einging, sogar auf den, dass ihre Kommissarin Paula Ringelhahn aus Guben kommen müsse: „Niemand will aus Guben kommen. Aber ich!“

Manzel war die erfolgreichste Tatort-Kommissarin der Geschichte

Und dann hatte dieser erste Franken-Tatort 13 Millionen Zuschauer, sie war die erfolgreichste Tatort-Kommissarin der Geschichte. „Was sagen Sie dazu?“, wollten die Journalisten wissen. Sie sagte gar nichts. Es war der denkbar ungünstigste Augenblick, 13 Millionen Zuschauer zu haben. Sie befand sich in einer Situation, da sie nicht einen einzigen Zuschauer ausgehalten hätte. In welcher, sagt sie nicht. Natürlich ist eine Schauspielerin eine öffentliche Person, aber doch noch nur insofern, als sie absolut keine öffentliche Person ist. Diese Grenze wahrt Dagmar Manzel auch im Buch. Journalisten sind ihr eher suspekt.

Nein, sie hat keine Angst vorm Alter. Im April hat „Glückliche Tage“ von Beckett am Deutschen Theater Premiere: Eine „etwa 50-jährige gut erhaltene Blondine“ steckt zu Beginn des Stücks bis zur Hüfte in einem Erdhügel, zum Schluss schaut nur noch der Kopf raus. Zum 60. Geburtstag wird sie Schönbergs „Pierrot Lunaire“ singen, das weiß sie schon. Und keine Interviews geben.

Eben hat sie mit ihrer Mutter den neuen Kaurismäki auf der Berlinale gesehen: Finnisch mit Untertiteln. Annemarie Manzel ist im Chor, im Wanderverein, ist Ehrenpräsidentin ihres Sportklubs und sie sah mit 86 Jahren ihren ersten Kaurismäki. Sie fand ihn großartig. Aber sie hatte doch Einwände, als ihre Tochter im Jahr 2000 ihren unkündbaren Vertrag am Deutschen Theater kündigte: „Du hast zwei Kinder, du musst doch an die Zukunft denken!“

Im Jahr darauf spielte und sang Dagmar Manzel Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“. Und plötzlich kamen alle, um nachzuschauen: Wer singt denn da? Auch Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper.

Ob es noch einmal etwas so umwerfend Neues geben für sie geben wird? „Kaurismäki hat erklärt, dass er nie wieder einen Film machen wird“, sagt Dagmar Manzel langsam, fassungslos über so viel vorsätzliches Ende. Soll das etwa heißen, sie wird niemals in einem Kaurismäki spielen? „Für den hätte ich sogar Finnisch gelernt!“

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