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Baden-Württemberg: Wie viel Politikwechsel steckt im grün-roten Koalitionsvertrag?

Bessere Kinderbetreuung, aber höhere Grunderwerbssteuer: Der am Mittwoch präsentierte 88-seitige Koalitionsvertrag ist der Rahmen für den angekündigten "Politikwechsel".

In der Euphorie des Wahlsieges haben Grüne und SPD den baden-württembergischen Wählern eine „Liebesheirat“ in Aussicht gestellt. Vier Wochen später ist klar: Es wird eine Zweckehe ohne Flitterwochen. Der am Mittwoch präsentierte 83-seitige Koalitionsvertrag ist der Rahmen für den angekündigten „Politikwechsel“. Vorgesehen ist ein rascher Ausstieg aus der Atomenergie, ein Ausbau der Betreuungsangebote, eine Reform des Schulsystems und einen ökologisch-sozialen Umbau der Wirtschaft.

Überraschend wird die Regierung um ein Ministerium vergrößert. Die SPD erhält mit sieben zwei Ministerposten mehr als die Grünen. Dank weiterer stimmberechtigter Regierungsmitglieder hat die Ökopartei im Kabinett trotzdem die Mehrheit. Die Grünen stellen unter anderem den Agrar- und Verbraucherminister und den Minister für das neu zugeschnittene Ressort Verkehr und Infrastruktur. Damit sind sie für das umstrittene Milliarden-Projekt Stuttgart 21 zuständig. SPD-Landeschef Nils Schmid wird in der neuen Regierung Vize-Regierungschef und Minister für das neue Großressort Finanzen und Wirtschaft. Die Genossen bekommen zudem das wichtige Kultusministerium und stellen in Person ihres Generalsekretärs Peter Friedrich überraschend auch den Bundesratsminister.

BILDUNG

„Bessere Bildung für alle“ verspricht der Koalitionsvertrag. Daher soll das bisherige Ziel, bis 2013 für 34 Prozent der Kleinkinder unter drei Jahren einen Betreuungsplatz anzubieten, überboten werden. Bei den Kindertageseinrichtungen will Grün-Rot durch eine Aufstockung des Personals mehr Ganztagesangebote schaffen. Für den vorschulischen Bereich hat der designierte Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) bereits Mehrausgaben von über 300 Millionen Euro pro Jahr in Aussicht gestellt.

Die größten Pläne hat Grün-Rot im Schulbereich. Neben dem bekenntnisorientierten Religionsunterricht soll Ethik schrittweise ab Klasse 1 als Alternative eingeführt werden. Die Entscheidung über die weiterführende Schule dürfen Eltern künftig selbst treffen. Zudem rüttelt die Koalition kräftig am dreigliedrigen Schulsystem: Die Gemeinschaftsschule für alle Kinder bis Klasse 10 wird künftig im Schulgesetz verankert. Dadurch sollen die Kommunen, die dies wollen, entsprechende Schulen einrichten können – von Grün-Rot finanziell wie personell gefördert. Es gibt daneben weiter Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen. Gymnasien sollen auf Wunsch der Schulkonferenz und des Schulträgers neben dem acht- einen neunjährigen Zug zum Abitur anbieten können. Ein wohnortnahes Ganztagsschulangebot soll aufgebaut werden.

An den Hochschulen entfallen ab dem Sommersemester 2012 die Studiengebühren. Die ausfallenden Einnahmen werden aus dem Landesetat ersetzt.

DIREKTE DEMOKRATIE

Die Stärkung der Bürgerbeteiligung ist ein zentraler Punkt des Koalitionsvertrages. Auf Landesebene soll das Instrument der Volksinitiative eingeführt werden. Danach reichen künftig 10 000 Unterschriften aus, um den Landtag zu zwingen, sich mit einem politischen Anliegen zu beschäftigen. Zudem strebt Grün-Rot – nicht zuletzt mit Blick auf Stuttgart 21 – den Wegfall des Zustimmungsquorums für Volksabstimmungen zu Änderungen von Gesetzen an. Dafür ist aber eine Zweidrittelmehrheit im Landtag und damit die Zustimmung der CDU notwendig, die bereits ihre Ablehnung signalisierte.

Bürgerbegehren sollen auf kommunaler Ebene erleichtert werden. So soll die Palette der Themen, über die Bürger abstimmen dürfen, erweitert werden. Auf Landkreisebene sollen künftig auch Bürgerentscheide stattfinden können. Zudem ist die Einführung der Direktwahl der im Südwesten relativ mächtigen Landräte, die bisher von den Kreistagen bestimmt werden, im Koalitionsvertrag verankert. Bei Kommunalwahlen wird das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre gesenkt.

ENERGIE

Mit der Forderung nach einem möglichst raschen Aus für die Atomkraft hat Grün-Rot im Landtagswahlkampf stark mobilisiert. Im Koalitionsvertrag heißt es nun, dass die nach Fukushima stillgelegten Atommeiler Neckarwestheim I und Philippsburg I des Karlsruher Stromkonzerns EnBW, an dem das Land wieder mit gut 45 Prozent beteiligt ist, nie mehr ans Netz gehen sollen. Die verbleibenden EnBW-Atommeiler Neckarwestheim II und Philippsburg II sollen verschärften Sicherheitsanalysen unterzogen werden, die Nachrüstungen oder sogar die Widerrufung der Genehmigungen nach sich ziehen können. Vom Bund fordert Grün-Rot, ein Gesetz zum beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft zu verabschieden, der Verfassungsklage anderer Bundesländer gegen die Laufzeitverlängerung will Stuttgart beitreten. Während der scheidende Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) bei der Frage nach einem Standort für ein Atomendlager stets für eine weitere Erkundung von Gorleben plädiert hatte, tritt Grün-Rot „für ein ergebnisoffenes, bundesweites Suchverfahren“ ein.

Für heiße Debatten dürfte auch die vertraglich fixierte Ankündigung sorgen, bis 2020 mindestens zehn Prozent des Stroms in Baden-Württemberg aus heimischer Windkraft zu decken. Bislang liegt der Anteil unter einem Prozent.

FINANZEN

Angesichts des geerbten Schuldenbergs in Höhe von rund 45 Milliarden Euro hält Grün-Rot eine Rückkehr zu Etats ohne neue Schulden erst ab 2019 – wie in der sogenannten Schuldenbremse für alle Länder festgeschrieben – für machbar. Um sich trotz der dafür notwendigen Anstrengungen Handlungsspielräume für Reformen zu erhalten, will die Koalition jährlich 100 zusätzliche Steuerprüfer einstellen. Jeder einzelne soll rund eine Million Euro pro Jahr erbringen. Zudem wird die Grunderwerbssteuer von derzeit 3,5 Prozent des Kaufpreises auf 5,0 Prozent angehoben. Die Häuslebauer sollen so gut 300 Millionen Euro pro Jahr in die Landeskasse spülen, diese Summe soll zweckgebunden in die Kleinkindbetreuung fließen.

Anders als die scheidende schwarz- gelbe Landesregierung will Grün-Rot zunächst auf eine Klage gegen den Länderfinanzausgleich, in den Stuttgart jährlich einen Milliardenbetrag einzahlt, verzichten. Der designierte Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) strebt vielmehr die Einberufung einer Föderalismusreform III an, um den Finanzausgleich auf dem Verhandlungsweg neu zu regeln.

STUTTGART 21/VERKEHR

Dass sie einen „Dissens“ über die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs haben, haben Grüne und SPD wörtlich im Koalitionsvertrag festgehalten. Den mühsam erzielten Konsens über die Durchführung einer Volksabstimmung aber auch. Festgeschrieben ist zugleich, dass sich das Land an Mehrkosten, die einen Rahmen von 4,5 Milliarden Euro inklusive der sich aus dem „Stresstest“ und dem Schlichterspruch ergebenden Kosten, nicht beteiligt. Das stärkt die Hoffnung der Grünen auf ein Aus des Projekts. Die Deutsche Bahn AG wird aufgefordert, den Bau- und Vergabestopp bis zu einer möglichen Volksabstimmung zu verlängern.

Zur zuletzt heiß diskutierten Zukunft des Automobilstandorts heißt es im Koalitionsvertrag, Grün-Rot wolle dazu beitragen, dass sich Baden-Württemberg zum „Leitmarkt“ für Elektromobilität und zum „Leitanbieter“ für alternative Antriebe entwickle. Fördergelder sollen daher in diesen Bereich fließen und der Fuhrpark des Landes auf alternative Antriebe umgestellt werden.

WIRTSCHAFT/SOZIALES

Die Wohnraumförderung wird neu ausgerichtet: Nicht mehr Eigentums-, sondern soziale Mietwohnungen in den Ballungsräumen will Grün-Rot vorrangig fördern. Mit einem Tariftreuegesetz verpflichtet das Land sich und seine Kommunen, Aufträge nur noch an Unternehmen zu vergeben, die ihren Beschäftigten Tariflöhne respektive einen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde zahlen. Im Sozialbereich verspricht der Koalitionsvertrag unter anderem ein „umfassendes Kinderschutzgesetz“, um einer Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen besser vorzubeugen.

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