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2011

© Yvan Travert / akg-images

Politik: Bärendienste

In Freiburg steht der älteste Gasthof Deutschlands. Er feiert in diesem Jahr seinen 700. Geburtstag

Wahrscheinlich ist das ein Missverständnis. Dass die Bären im wilden Wald wohnen, im dunklen Tann, in finsteren Höhlen. Nein, der Bär ist durch und durch ein städtisches Tier, ein hauptstädtisches sogar. Was hätte er sonst in Namen und Wappen verloren? Berlin. Bern. Metropolenbär.

Aber auch das ist nicht ganz wahr. Denn die eigentliche Heimstatt des Bären findet sich in einer eher schüchternen Stadt im deutschen Südwesten. In Freiburg. Da steht das Gasthaus „Zum roten Bären“. Es ist das älteste Gasthaus Deutschlands. Seinen 700. Geburtstag feiert es in diesem Jahr.

Zwar gibt es nicht wenige, die diesen Rang bestreiten wollen, der „Riese“ im unterfränkischen Miltenberg zum Beispiel oder die „Herberge zum Löwen“ im badischen Seelbach. Aber nirgendwo ist die Tradition der jahrhundertelangen Bewirtschaftung so unzweifelhaft dokumentiert wie hier im Herzen der Freiburger Altstadt, eine lückenlose Liste der 50 „Bären“-Wirte von Johan dem Bienger, 1311, bis zu Monika Hansen, die 1965 in den „Roten Bären“ kam, alsbald Wirtin wurde, es heute noch immer ist und den Ruf des Gasthofs in alle Welt getragen hat. Selbst das Frühstücksfernsehen in Hongkong hat über ihn berichtet.

Jetzt sitzt sie, Oberbärin der deutschen Gastronomie, Grande Dame, im kleinen Innengärtchen ihres Gasthofs, zwischen ehrwürdigen Mauern und grünen Pflanzen, ein goldener Bär baumelt an einer Kette um ihren Hals, und gleich wird sie zu einem langen, gründlichen Geschichtsunterricht ausholen. Denn 46 Jahre in diesem Hotel und Restaurant haben sie nicht nur zu einer Freiburger Institution gemacht, sondern zu einer Stadt- und Lokalhistorikerin zugleich.

Bären, wohin das Auge reicht. Die Kekse zum Kaffee in Bärenform; die Butter zum Brot ebenfalls; der Schirmständer gleich hinter der Eingangstür; die Griffe auf den silbernen Cloches, die die Speisen auf den Tellern warm halten; die Muster auf den Sitzpolstern im Speisesaal. Und natürlich glänzt und thront der Bär golden und massiv hoch über dem Hoteleingang.

Ob es dieses Gold ist, das rötlich schimmernde Gold, das dem „Bären“ das Adjektiv rot gegeben hat? Der „rote Bär“? Nein, da widerspricht die Gasthaushistorikerin entschieden. Rot, sagt Monika Hansen, sei seit jeher die Farbe der Gastronomie. Genauer gesagt: seit den Kreuzzügen. In den riesigen Heerlagern habe es damals stets eine Reihe roter Zelte gegeben. Es waren die Bewirtungszelte, und jeder Krieger wusste, wenn er rot sah: Hier gibt es zu essen und zu trinken. Versteht sich, dass auch die Fassade des Freiburger „Bären“ eine rote Farbe trägt. Und die Geranien sind auch rot.

Der Geschichtsunterricht hat begonnen, und jetzt muss dringend von Nese gesprochen werden. Denn Nese war die 50. Vorgängerin von Monika Hansen, die Ehefrau des besagten Johan dem Bienger, dem ersten historisch verbürgten Wirt. Und als Ehefrau war sie für die Küche zuständig. Was mag Nese 1311, in den grauen „Bären“-Vorzeiten, ihren Gästen auf den Tisch gebracht haben?

Monika Hansen holt aus. Man müsse sich so einen mittelalterlichen Gasthausbetrieb natürlich anders vorstellen als zu heutigen Zeiten. Der Gast habe damals nicht einfach bestellen können, wonach es ihn gelüstete. Nein, es habe immer nur ein einziges Gericht zur Verfügung gestanden, es gab eben, was es gab. Auf dem Tisch stand eine große Schüssel, aus der sich jeder bedienen konnte. Aber keineswegs nach Lust und Laune. Die Portionen waren genau vorgeschrieben. Männer bekamen mehr als Frauen und Meister mehr als Gesellen. Der Rat der Stadt hatte die Rationen festgelegt – und auch die Preise. Denn das Essen im Gasthaus musste bezahlbar sein. Schließlich war es zu jenen Zeiten ganz alltäglich, in den Wirtsstuben der Stadt essen zu gehen. Nur 9000 Einwohner gab es im 14. Jahrhundert in Freiburg - aber 47 Wirtshäuser. Wobei diese Rechnung sehr mittelalterlich ist; denn gezählt wurden damals nur die männlichen Einwohner. Dennoch ist das Verhältnis von Gaststätten und Gästen verblüffend. Aber Monika Hansen hat eine Erklärung dafür.

Die meisten privaten Haushalte verfügten nämlich gar nicht über Kochstellen, sieht man einmal von einigen hochherrschaftlichen Häusern ab. Das wäre zu kompliziert gewesen – und zu gefährlich. Gekocht wurde über offenen Feuern. Darüber hingen große Kessel, drehten sich Spieße, und manche Speisen wurden in Töpfen auf Dreispitzen bereitet, die über die Flammen gestellt wurden. Die Brandgefahr war bei solch ungezähmten Feuern natürlich erheblich.

Die Art der Kochstellen bestimmte denn auch die Art der Speisen. In die hängenden Kessel kam, was gerade im Haus war. Eintöpfe waren deshalb im ausgehenden Mittelalter besonders häufig. Täglich wurde auch ein dicker Brei gekocht, aus Getreide wie Hafer, Gerste, Hirse, Weizen oder Roggen, aus Bohnen oder Erbsen, angesetzt mit Wasser und Milch. Dieser Brei hatte eine besondere Funktion. Er wurde geröstet, in dicke Scheiben geschnitten und diente so als Unterlage, als eine Art Teller für andere Speisen. Denn Löffel oder Gabeln („Teufelszeug“, sagt Monika Hansen) waren damals im „Bären“ nicht üblich. Fleisch, sofern es welches gab, wurde mit den Fingern aus einer Schüssel geholt, mit einem Messer – das bekam jeder Gast – in mundgerechte Stücke geschnitten und auf die Breischeiben gelegt.

Nicht immer im Lauf der Jahrhunderte war von allem viel da, aber ganz und gar ärmlich war die Küche des „Bären“ außerhalb der Zeiten der Hungersnöte nicht. Es gab Gemüse, Kohl, Rüben, Lauch, Gurken, Löwenzahn, es gab Butter, Käse, Eier, denn in einem kleinen Garten, der heute noch existiert wurden Hühner gehalten. Es gab Fisch und Fleisch, gewürzt wurde mit Kresse, Bucheckern, Hagebutten, Holunder, Petersilie, Salbei, Sauerampfer. Sogar frisches Obst kam auf den Tisch, Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Weintrauben. Weil es im 14. Jahrhundert in Freiburg fast mediterran warm war, gediehen hier sogar Melonen. Und der Wein wuchs im Badischen damals auch schon. Er wurde in großen Krügen aufgetragen, und immer zwei Personen, so war es Brauch, teilten sich einen Becher. Zwar muss dieser Wein entsetzlich sauer gewesen sein, getrunken aber wurde er reichlich. Denn Wasser war nicht selten ein ungenießbares Getränk, oft verunreinigt, Brunnen waren rar.

Im „Bären“ war das anders. Von Anfang an befand sich im Innenhof eine Wasserstelle. Vielleicht war es gerade dieses Privileg, das den Gasthof all die Zeiten, die guten und die schlechten, überdauern ließ, vermutet Monika Hansen. Ein eigener Brunnen war Gold wert, nicht nur fürs Trinken und Kochen, sondern auch um Feuer zu löschen und um die Pferde zu versorgen. Denn natürlich gab es im „Bären“ bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts einen großen Pferdestall. Heute parken hier Autos.

Heute und damals. Wie uns die Zeiten geändert haben, zeigt auch der Rhythmus der Mahlzeiten. Das Frühstück wurde im Morgengrauen eingenommen, es war eine dünne Milchsuppe, manchmal auch warmer Wein mit Wasser. Mittagessenszeit war gegen neun Uhr, und das Abendessen um 15 oder 16 Uhr. Wenn sich heute im „Bären“ der Speisesaal zu füllen beginnt, hatte im 14. Jahrhundert das Gasthaus längst seine Tore geschlossen, und die Gäste lagen auf ihren Matratzen – Säcke mit Laub und Stroh gefüllt – in ihren Zimmern. Besser gesagt: in einem einzigen Zimmer, einem großen Gemeinschaftsraum, in der auch der Gemeinschaftstrog zum Waschen stand. Besonders komfortabel muss das alles nicht gewesen sein – und kalt obendrein. Unten im Gastraum stand zwar ein großer Kachelofen, der von den Feuern der Küche beheizt wurde. Aber in den Schlafraum wurden allenfalls ein paar Pfannen mit glühenden Kohlen gebracht, Kamine gab es erst später, und eine Zentralheizung erhielt das Gasthaus erst um 1930. So muss es im Winter eiskalt gewesen sein, zumal die Menschen nackt zu schlafen pflegten. Sie wärmten sich aneinander.

Im kleinen Garten des „Bären“ muss Monika Hansen ihre Geschichtsstunde nun doch für einen Moment unterbrechen. Die Sonne hat sich davongemacht, und selbst in Freiburg, der wärmsten Großstadt Deutschlands, wird es in diesem Sommer abends kühl. Weshalb die Hausherrin nun ins Innere bittet – aber kaum das man hier drei Schritte tut, schon ist man wieder mittendrin in der Geschichte. Und diese Geschichte soll im „Bären“ auch hergezeigt werden. Schon im Eingang, an der Hotelrezeption, führt er vor, was er hat. Rohes Steinwerk aus romanischer Zeit, Mauern aus dem Werden und Vergehen der Jahrhunderte, sie alle haben hier ihre Spuren hinterlassen. Denn dieses Haus ist ja noch älter als der Gasthof selbst, geht zurück aufs zehnte Jahrhundert, stand schon da, ehe Freiburg 1120 die Stadtrechte bekam.

Weshalb der „Rote Bär“ mehr ist als eine Wirtschaft, ein Restaurant, ein Hotel. Er ist ein Museum. Monika Hansen hat jetzt den Schlüsselbund geholt, und nun geht es hinab unter die Erde, in ein Zauberreich aus gewaltigen Gewölben, aus Pfeilern und Balken. Und hier lebt die „Bären“-Wirtin nun ganz und gar in ihrer zweiten Profession auf, verwandelt sich in eine Archäologin, eine Fremdenführerin, eine stolze Museumsbesitzerin. Zeigt und erklärt, blitzt mit den blauen Augen, ein lebendiges Geschichtsbuch, und begrüßt jeden einzelnen Stein wie einen guten Bekannten. Und geht weiter durch verschlungene Gänge, rechts herum und links herum, ein Steinlabyrinth, und dann öffnet sie eine ganz besondere Tür.

Nicht zu glauben. Hier steht etwas, das man in diesem Kellerreich der Altertümer zu allerletzt vermutet hätte. Nagelneu, gestern erst montiert, noch gar nicht angeschaltet: ein Blockheizkraftwerk. Hier im „Bären“? Der Wirtin neueste Errungenschaft. Wer sagt denn, dass Tradition Moderne ausschließt?

Allerdings, es hat lange gedauert, bis die modernen Zeiten in der Gastronomie angekommen sind. Denn so, wie die erste Wirtin Nese ihre „Bären“-Dienste versehen hatte, so ging es in den folgenden Jahrhunderten weiter, ohne dass bahnbrechende Neuerungen in die Wirtshausküchen kamen. Es dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, da erst geschah die Revolution: die Zähmung des Feuers. Der sogenannte Sparherd wurde erfunden, jenes eiserne Gestell, in dessen Innerem die Flammen loderten, aber eben im Inneren blieben, nichts verbrannten oder verrußten, sondern nur die Herdplatte heizten. Darauf konnte man jetzt beliebig viele Töpfe stellen, konnte mit Eisenringen die Temperatur regulieren und auf einmal auf ganz neue Weise kochen.

Die zweite Revolution schloss sich der ersten sogleich an: die Eisenbahn. Plötzlich veränderte sich das Reisen von Grund auf, brachte eine neue Mobilität in Gesellschaftsschichten, die bis dahin eher sesshaft gewesen waren. So sah man sich im „Bären“ einer ganz neuen Klientel gegenüber: Statt der bisherigen Handelsreisenden kamen nun die Urlaubsreisenden. Und eine zweite Folge brachte die Eisenbahn mit sich. Auf einmal gab es neue Möglichkeiten des Warenumschlags. Viel schneller konnten nun Güter herangeschafft werden, die komplizierte Lagerhaltung von Lebensmitteln, eines der größten Probleme in den grauen Kochvorzeiten, entfiel damit. Genau das sollte bald allerdings noch wesentlich einfacher werden. Dafür sorgte die dritte Revolution: die Elektrifizierung der Welt.

So wurde aus dem „Bären“ der Wirtin Nese nach und nach und mit der gebührenden Langsamkeit der „Bär“ der Wirtin Monika Hansen. Zwischen Kellerquadern auf der einen und Blockheizkraftwerk auf der anderen Seite. Zwischen Bewahren und Erneuern. Der heutige Gastraum mit seinen 120 Plätzen zeigt genau dieses Spannungsverhältnis. Ein heller Saal, in dem sich die Sprachen aller Länder kreuzen und Japaner die Desserts auf ihren Tellern fotografieren. Und trotzdem eine Stube der Behaglichkeit, die sich nach zwei Seiten zu stemmen scheint: gegen kühle Modernität mit dem Verweis auf die 700-jährige Geschichte; gegen eine Historisierung mit dem Verzicht auf allzu schwergewichtige Traditionsmetaphern. Keine Wagenräder als Dekorationsgetöse, keine Pferdehalfter an der Wand. Selbst das folkloristische Dauerfeuer des Schwarzwalds, der berüchtigte Bollenhut, ist hier in eine unscheinbare Nische verbannt. „Tradition ist Schlamperei“, hat der Komponist Gustav Mahler einmal gesagt. Eine Schlamperei, möchte man hinzufügen, die einem in seiner „Bären“-Form durchaus ans Herz wachsen kann.

So also ist das gewesen mit dem „Bären“ zwischen 1311 und 2011. Mochten Hungersnöte kommen und Kriege, mochte Herrscherwillkür walten – der „Rote Bär“ hat alles überdauert. Auch jenen 27. November 1944, als britische Flugzeuge Freiburg in Schutt und Asche legten. Zwei Wunder ereigneten sich an diesem schrecklichen Tag: Wo ringsherum alles zur Trümmerwüste wurde, blieb ein Gebäude unbeschädigt, als hätte der liebe Gott seine Hand selbst darüber gehalten – das Freiburger Münster („Der schönste Turm der Christenheit“). Das zweite Wunder geschah im „Bären“. Er brannte nicht ab, obwohl ihn Brandbomben getroffen hatten, lediglich der Dachstuhl stürzte ein.

Ein unvergänglicher „Bär“. Umgebaut immer wieder in all den Jahrhunderten. Von Grund auf saniert, modernisiert, restauriert. Aber doch immer auf demselben Areal, kein Meter mehr, kein Meter weniger, stabil, beständig. Auch den Namen hat er immer behalten, 700 Jahre lang. Mit einer kleinen Ausnahme. Irgendwann im 19. Jahrhundert war es, da wurde einer der fünfzig „Bären“-Wirte von einem jähen Anfall von Modernität ergriffen, und er nannte den Gasthof auf einmal „Krokodil“.

Natürlich blieb es nicht dabei. Die Modernität dauerte nur zwei Jahre. Dann kam der „Bär“ zurück. Was soll denn auch ein Krokodil im Schwarzwald?

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