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Bauboom: Libyen sucht den Weg zurück in die Welt

Vor 41 Jahren putschte sich Muammar al Gaddafi an die Macht, propagierte dann einen arabischen Sozialismus, isolierte sein Land, verschleuderte Geld. Nun reichen Öl und Gas nur noch 30 Jahre – und Libyen baut. Alles groß und alles gleichzeitig.

Lauschige Wasserspiele unter Palmen, majestätische Bögen vor blauem Himmel und spiegelnder Marmor. Auf der Computerleinwand ist alles fertig – in der Realität steht erst der Rohbau. Bis Ende nächsten Jahres sollen hier 250 internationale Luxusläden einziehen, garniert mit Eislaufarena, sieben Kinos und Bowlingbahn. Libyen baut seinen ersten Superlativ: die größte Einkaufsmeile des Landes für umgerechnet 600 Millionen Euro. Die 1800 Luxusappartements im geplanten Wohnpark nebenan sind auf 180 bis 400 Quadratmeter ausgelegt, die Ladenflächen bereits ausgebucht.

Auf der Großbaustelle Bad Trablous im Süden von Tripolis mahnen an jeder Ecke Schilder auf arabisch, türkisch und vietnamesisch. „Haltet die Baustelle sauber.“ Die Architekten kommen aus Kalifornien, die Ingenieure vom Bosporus und die 500 Handwerker aus Vietnam, Ägypten und Tunesien. Aus Libyen stammen nur die Aufpasser, die jeden Kontakt mit den Arbeitern sofort unterbinden und die Projektmanager aus dem Ausland misstrauisch überwachen.

Einer von ihnen, ein Baumeister im neuen Paradies, ist Afsin Canbolat, 43 Jahre alt. In Amerika hat er über extrem belastbare Materialien promoviert und bevor es ihn nach Tripolis verschlug, half er beim Bau der Istanbuler Metro. Beim Rundgang durch die grauen Betonetagen entwindet sich Canbolat heftigen Vorhaltungen. „Wir antworten halt, wenn wir gefragt werden“, sagt er, grinst und zuckt mit den Achseln. Was so geheimnisvoll sein soll an dieser libyschen Shopping-Mall, kann er nicht erklären. Baugleiche Einkaufszentren stehen doch schon überall sonst im Nahen Osten, von Jordanien bis Dubai, von Ägypten bis Saudi-Arabien,

Der Bauboom in der „Großen Sozialistischen libysch-arabischen Volksrepublik“ folgt – wie fast alles im Wüstenreich des Revolutionsführers Muammar Gaddafi – ganz eigenen Regeln. Dreistellige Milliardensummen steckt das ölreiche Land in sein neues Morgen, auch wenn seine Leute meist noch von gestern sind. Sogar Bauarbeiter muss Libyen importieren. Überall wird betoniert und geziegelt, stehen Gerüste und nagelneue Kräne. So manche Baufirma, die im überschuldeten Dubai ihre Zelte abbrechen musste, errichtet jetzt an der nordafrikanischen Küste Seehäfen, Brücken, Eisenbahnen, Straßen, Metro-Netze, Flughäfen und Hotels. Alles groß und alles gleichzeitig, scheint die Devise. Selbst die protzigen Paläste der einst so verhassten italienischen Kolonialherren werden aufwändig renoviert.

Vier Jahrzehnte panarabische Träume und sozialistischer Mief, Schurkenstaat und UN-Sanktionen haben tiefe Spuren hinterlassen – in den Köpfen der Menschen und im Aussehen ihrer Städte. „Wo ist nur das ganze Ölgeld geblieben“, fragt sich selbst Vormann Gaddafi inzwischen öffentlich. Tobruk im Osten erlebte vor kurzem gar einen Ausbruch der Beulenpest. Der Flughafen in Tripolis wirkt abgewetzt, die fahrbare Flugzeugtreppe schwankt so stark, dass, wer hinabsteigt, Angst hat, sich die Knochen zu brechen. An vielen Brücken hängen revolutionäre Ermahnungen, auch wenn sich die allgegenwärtigen Porträts des „Bruder Führers“ Gaddafi inzwischen mit Reklamewänden für Babywindeln, Orangensaft und Streichkäse messen müssen.

Libyen sucht den Weg zurück in die Welt. Das UN-Embargo wurde 2003 aufgehoben, die diplomatischen Beziehungen zu den USA sind nach fast vier Jahrzehnten Pause wieder hergestellt. Als 1969 der 27-jährige Oberst Muammar al Gaddafi gegen seinen König Idris I. putschte, herrschten in China Mao Zedong, in Russland Leonid Breschnew und in den Vereinigten Staaten Richard Nixon. Sie alle sind längst tot, während der Beduinen-Oberst am heutigen Mittwoch sein 41. Jahr an der Macht feiert. Er ist der dienstälteste Potentat des Globus und „ich bin der Führer der Führer Arabiens, der König der Könige Afrikas und der Imam aller Muslime“, sagt er über sich selbst.

Seitdem der 68-Jährige die Familien der Opfer des Lockerbie-Attentates von 1988 – hinter dem Anschlag auf ein Verkehrsflugzeug steckten libysche Geheimdienstler – entschädigt hat; seitdem er seine Atomwaffenpläne aufgegeben hat, konnte er die kostspielige Dauerkonfrontation mit dem Westen beilegen. Zu lähmend waren die Frustrationen seiner sechs Millionen Untertanen geworden, von denen die Hälfte jünger als 25 Jahre ist.

Nach wie vor jedoch reden die Menschen im Land nur hinter verschlossenen Türen über ihre Unzufriedenheiten. Das erzählt ein Unternehmer aus der ostlibyschen Hafenstadt Benghazi. „Wir sind ein so kleines Volk, wir haben so viel Öl. Warum sind wir so arm und müssen in so schlechten Häusern leben?“, klagten seine Mitarbeiter unter vier Augen. Die Durchschnittslöhne liegen bei 400 bis 700 Euro. Die Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten ist zweistellig. „Die Menschen haben immer den Mund gehalten – und es wird dauern, bis sich das ändert“, sagt er. Auch Journalisten werden in keinem anderen arabischen Land so ungeniert überwacht wie in Libyen. Korrekt gekleidet mit Schlips, Jackett und Handy folgen Aufpasser diskret durch die Straßen. Systematisch werden ausländische Besucher von der Bevölkerung abgeschirmt, damit sie Volkes Meinung möglichst nicht erfahren.

Die neuen Ventile des Regimes gegen sozialen Überdruck sind vor allem gigantische Wohnprojekte. Das größte des Landes entsteht 30 Kilometer vor den Toren von Benghazi, das lange als Hochburg von Gaddafi-Gegnern galt. 8000 chinesische Bauarbeiter schuften hier unter amerikanischer Aufsicht. Kilometerlang reihen sich die halbfertigen Appartementblöcke. Bis Ende 2012 sollen 20 000 Wohnungen und Bungalows für insgesamt 145 000 Menschen fertig sein. Für das ganze Land sind bis Ende des Jahres 2020 sogar 500 000 Neubauten geplant. 100 Milliarden Dollar lassen sich Vater Staat und „Bruder Führer“ das gigantische Volksbeglückungsprogramm kosten, das gleichzeitig jegliche grundsätzliche Kritik am Machtsystem Gaddafi ersticken soll.

Wael Ahmed Buryan jedenfalls macht sich keine Sorgen um seine Zukunft. Die Hälfte seines Informatikstudiums hat der 22-Jährige hinter sich. „Libyen öffnet sich, Touristen kommen, wir haben wieder eine amerikanische Botschaft – das ist für mich entscheidend“, sagt er. Sich selbst bezeichnet er als glücklich, seinen Vater als „altertümlich“, weil der nichts auf Gaddafi und die Revolution von 1969 kommen lässt. Im ganzen Land habe es damals sieben Ärzte gegeben – „im Vergleich dazu leben wir heute im Paradies“, erzählt er zu Hause am Esstisch. Mit Nostalgie kann der Nachwuchs nichts anfangen. Ihr Vorbild ist Saif al Islam, der weltläufige Sohn des exzentrischen Staatschefs. Der forderte jüngst in einer Rede in Kairo eine Verfassung und mehr Respekt für die Menschenrechte. „Wir haben keine unabhängigen Medien, keine politische Kultur und eine sehr schwache Zivilgesellschaft“, kritisierte er und sprach von einem „Mangel an Vertrauen“ in die Staatsführung, einem „Mangel an Kompetenz“ in den Ministerien.

Doch vierzig Jahre revolutionäres Pathos, Wüstensozialismus, den Gaddafi in seinem Werk „Das grüne Buch“ propagierte, bürokratische Lähmung und systematische Faulheit lassen sich nicht schnell beseitigen. Bis das alles ausgeschwitzt ist, schätzt ein westlicher Geschäftsmann, „das dauert mindestens zwei Generationen“. Denn die alte Garde, erkennbar an ihren weißen Haarschöpfen und ihren Oden auf die ruhmreiche Weitsicht des „Bruders Führer“, sitzt noch an vielen Schaltstellen. Mohammed Abdul Quasim al Zwai etwa, Präsident des libyschen Volkskongresses, ging bereits mit Gaddafi zur Schule. Und seinen zweistündigen Monolog beginnt er mit einem rosaroten Rückblick auf die Sowjetunion, wie er heute Seltenheitswert hat.

Der Reformer Shukri M. Ghanem hingegen wischt solche Rhetorik vom Tisch. Er war von 2003 bis 2006 Regierungschef und überwacht seither als Chef der National Oil Corporation den Export des schwarzen Goldes. Libyens Sozialismus, „das hat eindeutig nicht funktioniert“, poltert er und fordert, „die künstlichen Mauern“ niederzureißen, „die die Menschen daran hindern, ihre ökonomischen Rechte auszuüben“. Von politischen Rechten aber redet er nicht.

Auch im letzten Winkel des Landes ist heute via Satellitenfernsehen klar, dass andere Ölstaaten wie Kuwait, Katar oder Abu Dhabi viel weiter sind, manche fünfmal so reich. Libyen dagegen zieht jenseits von Öl- und Gasindustrie kaum ausländische Investoren an. Der Ausbau des privaten Sektors kommt nicht voran. Der Tourismus dümpelt weiter bei 200 000 Gästen pro Jahr vor sich hin. Und das, obwohl Libyen gesegnet ist mit insgesamt 2000 Kilometern Strand sowie Weltkultur-Stätten wie Leptis Magna, Sabratha und der einzigartigen Lehmstadt Ghadames, wo Sophia Loren 1957 mit John Wayne den Abenteuerfilm „Legend of the Lost“ drehte.

Wie eh und je nährt sich das Nationalbudget vom Öl. Fast jeder Erwachsene ist beim Staat angestellt – insgesamt eine Million Beamte. „Wir müssen runter von dieser Zahl, aber wohin mit all den Leuten?“, fragt Abd al Hafid Mahmud al Zulaytini. Der Finanz- und Planungsminister, ein untersetzter Mann mit spitzbübischem Gesicht, will die Hälfte in den nächsten Jahren in teure Frührente schicken, weil der „Privatsektor, das zarte Pflänzchen“ sie nicht aufnehmen kann. Er gibt das viele Geld aus, was Ölminister Ghanem hereinholt. Und beide wissen, wie sehr die Zeit drängt. Libyens Reserven, obwohl die größten in Afrika, reichen maximal noch für 30 Jahre. Für einen so komplexen Wandel vom erstarrten Ölsozialismus zu einer selbsttragenden modernen Volkswirtschaft ist das keine lange Zeit. Die Jugendlichen von heute jedenfalls werden das Ende von Öl und Gas noch erleben.

Und so klingen al Zulaytinis Sätze am Schluss des Gesprächs wie eine dramatische Selbstbeschwörung. „Wir brauchen sehr gut ausgebildeten Nachwuchs, eine exzellente Infrastruktur und ein gutes Gesundheitswesen“, sagt er. „Das ist das Ziel Nummer eins – sonst werden wir unseren Lebensstandard nicht halten können.“

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