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Guter Mann, was nun? Jürgen Schneider im Stuttgarter Theater.

© Daniela Aldinger

Baulöwe Jürgen Schneider: Wie ein Größenwahnsinniger beinahe ein Weiser wurde

Vor Gericht glaubte er, verstanden zu haben: Familie und Freunde sind wertvoller als Geld – und Milliardensummen keine Peanuts. Ein Stuttgarter Theater inszeniert nun sein Leben, von dem Baulöwe Jürgen Schneider hofft, es möge allen eine Lehre sein.

Er sitzt auf einem Klappstuhl im Zuschauerraum des Theaterhauses Stuttgart und wartet auf die Premiere eines Stücks über sein Leben. Jürgen „Baulöwe“ Schneider hat die Arme vor der Brust verschränkt, die breit aufgestellten Beine stecken in einer zu großen Anzughose, die weißen, gelockten Haare ranken wie ein Lorbeerkranz um seine Halbglatze. Schneider, mittlerweile 79, sieht immer noch ein bisschen aus wie auf dem legendären „Stern“-Cover aus dem Jahr 1997, das ihn in Florida zeigte: ein wenig clownesk, ein wenig wie ein verrückter Professor.

Regisseur Christof Küster stellt sich neben ihn, ein junger, schmaler Mann in Kapuzenpulli und mit halblangen Haaren. „Und? Aufgeregt?“, fragt er Schneider mit dünner Stimme und ernster Miene. Küster ist nervös. „Ach was“, brummt Schneider und lacht dröhnend. Er weiß nichts über das Stück, war nicht bei der Generalprobe, hat nur ein paar Stunden vorher einen sekundenkurzen Ausschnitt in den Nachrichten des Regionalfernsehens gesehen. „Wissen Sie, ich stand schon auf so vielen Bühnen, das Gericht war nur die größte.“ Schneider blickt auf die Bühne vor ihm, wo ein riesiger Sandkasten aufgebaut ist. „Ich bin aber gespannt, was Sie aus meinem Leben gemacht haben.“

Es ist ein Leben, das tatsächlich einem Theaterstück ähnelt, inklusive Heldenreise. Nicht nur Schneiders Frau kennt die drei Akte, wahrscheinlich auch jeder Deutsche über 30. Zur Erinnerung: Erster Akt – Der Aufstieg. Praktisch aus dem nichts taucht Schneider Mitte der 80er Jahre auf und kauft teuerste Immobilien in den deutschen Innenstädten. In kürzester Zeit avanciert er zu einem der größten Privatinvestoren Deutschlands. Sein Nettovermögen beträgt Anfang der 90er fast 5000 Millionen Mark.

Zweiter Akt – Der Crash. Die Banken zweifeln an Schneider, geben keine Kredite mehr, und es kommt heraus, dass sein Immobilienimperium auf einem Schneeballsystem basiert, das jetzt – ohne weitere Kredite – zusammenbricht. Zu dem Zeitpunkt hat Schneider bei 55 Banken Kredite in Höhe von insgesamt fast sechs Milliarden Mark eingesammelt. Ohne eigenes Geld mitzubringen.

Dritter Akt – Die Katastrophe. Gemeinsam mit seiner Frau flieht er nach Miami. 245 Millionen Mark schafft er zuvor auf Schweizer Konten. Die Schneiders tauchen fast ein Jahr lang ab, die Medien spekulieren schon über den Tod der beiden. Schließlich werden sie verhaftet und später nach Deutschland abgeschoben. Jürgen Schneider wird zu sechs Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Er nimmt die Strafe ohne Einspruch an, sitzt zweieinhalb Jahre ab, zeigt sich reuig.

Christof Küster kam im Sommer 2011 auf die Idee, dieses dramatische Leben mit dem Ensemble „Stuttgart 22“ auf die Bühne zu bringen. Er war im Urlaub in Bad Gastein, sah, wie in dem Kurort die alten herrschaftlichen Gebäude verfielen und musste an Jürgen Schneider denken, „dem hätte das bestimmt das Herz gebrochen“. Von da an ging ihm Schneider nicht mehr aus dem Kopf. Küster las die Autobiografie „Bekenntnisse eines Baulöwen“, sah einen Dokumentarfilm über dessen Fall und schrieb Schneider schließlich eine E-Mail. Darin erklärte er, dass er die Geschichte gern für ein Theaterstück aufbereiten wolle, das auf der Autobiografie, auf Prozessprotokollen, Zeitungsartikeln und einem Interview, das noch zu führen sei, basieren sollte, und das die Frage stellen wollte: Kann Unglück glücklich machen? Er erhielt schnell eine Antwort.

Schneider forderte ein Jahr Bedenkzeit. Er zögerte nicht etwa, weil er selbst die Öffentlichkeit scheute, sondern weil seine Frau das tut. Er schaffte es, sie zu überzeugen – zumindest fast. Am Abend der Premiere bleibt sie im Hotel. Sie sagt: „Ich habe schon so viel Theater mit dir erlebt – da brauche ich wirklich kein echtes Stück mehr über dich sehen.“

Dem Regisseur ließ er bei der Umsetzung völlig freie Hand

Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis sieht es Jürgen Schneider als Pflicht an, sich der Öffentlichkeit zu stellen. Er glaubt, größtmögliche Transparenz sei die Währung, mit der er sich die Wiederaufnahme in die Gesellschaft kaufen muss. Trotzdem – „ich verstehe schließlich nichts vom Theater“ – ließ er dem Regisseur bei der Umsetzung völlig freie Hand. Dieses große Vertrauen lässt sich wohl dadurch erklären, dass Schneider davon überzeugt ist, durch sein Unglück tatsächlich glücklicher, befreiter als zuvor zu sein. Außerdem sagte ihm Küster bald, dass das Stück „Doktor Utz oder die wundersame Läuterung des Jürgen Schneider“ heißen solle und der Titel Programm sei: Es sollte von der Wandlung des einst Größenwahnsinnigen zum weisen Mann erzählen.

Jürgen Schneider sagt: „Ich wünsche mir, dass meine Geschichte ein Lehrstück wird.“

Wenige Stunden vor der Premiere am vergangenen Mittwoch sitzt er mit seiner Frau im ICE und rast von Bonn nach Stuttgart. Wegen ihrer Kinder leben die Schneiders heute zwischen Bonn und Frankfurt in einer Mietwohnung. Ein Treffen im Bordrestaurant.

Damit das Leben des Jürgen Schneider zum perfekten Theaterstück wird, fehlt noch etwas. Ein Prolog vielleicht. Oder, wie Schneider, der mit Theater im Grunde nicht viel anfangen kann, wohl selber sagen würde: Die Moral der Geschichte. Er holt aus. „Wenn ich die Nachrichten zur Bankenkrise sehe, denke ich oft: Die sollten mal schauen, wie das bei mir damals war.“

Schon der Richter, der im Jahr 1997 den Prozess gegen Schneider führte, zog eine Lehre aus dessen Geschichte. Er sagte in der Urteilsbegründung, der Fall sei eine Parabel für unsere Gesellschaft, in der Schein mehr gelte als Sein. Er verglich Schneider, der von den Banken mit geschönten Zahlen Kredite kassierte, mit dem „Hauptmann von Köpenick“, jenem Schuster, der in geklauter Uniform ins Rathaus zog, Soldaten rekrutierte, den Bürgermeister verhaften ließ und die Stadtkasse raubte – und dessen Leben Carl Zuckmayer in ein Theaterstück verwandelte. Schneider selbst zieht aber noch viel mehr Schlüsse als sein Richter. Als Frankfurt am Main an den ICE-Fenstern vorbeizieht – die Türme der Banken sind nicht zu sehen – erklärt er: „So wie es in der Schule verschiedene Fächer gibt, gibt es in meinem Leben unterschiedliche Lehren.“ Was folgt, sind allerdings eher vermeintliche Lehren für alle anderen als für ihn selbst.

Die wichtigste: Die Banken müssen in ihre Schranken gewiesen, stärker kontrolliert und für Fehler zur Rechenschaft gezogen werden. Schon sein Prozess habe schließlich gezeigt, wie absurd die Finanzwelt sei.

„Die Banker, die meine Kredite bewilligt haben, hätten damals im Prozess neben mir auf der Anklagebank sitzen müssen.“ Schneider redet sich in Rage: „Die waren extrem dran interessiert, mir diese Kredite zu geben und haben die Unterlagen, die ich zur Kreditvergabe vorlegte, absichtlich nicht so genau angeschaut.“

Die Griechen gingen bankrott und er dachte an seine Geschichte

In der Verhandlung fragte der Richter ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, ob er die Preise, die Schneider als Mieteinnahmen in der Zeilgalerie in Frankfurt ansetzte, plausibel fand. Schneider hatte im Finanzierungsantrag Einnahmen für eine vermietbare Fläche von 20 513 Quadratmetern angegeben. Tatsächlich hatte das Gebäude aber nicht einmal 10 000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Das stand sogar auf einem Schild vor der Baustelle. Die veranschlagten Mieteinnahmen waren offenkundig falsch, bei einem Rundgang hätte das jeder gesehen. Trotzdem stimmte das Vorstandsmitglied dem Kreditantrag zu, Schneider erhielt 415 Millionen Mark. Im Prozess antwortete der Banker nur, „es war plausibel, und insofern hat die Plausibilitätskontrolle ergeben, dass es plausibel war. Wenn es nicht plausibel gewesen wäre, wäre es aufgefallen.“

Hilmar Kopper, der damalige Chef der Deutschen Bank, hatte da bereits den berühmten Satz ausgesprochen, der für immer mit Jürgen Schneider in Verbindung bleiben wird. Als es darum ging, dass kleine Handwerksbetriebe, die Schneider beauftragt hatte, auf Rechnungen in Höhe von etwa 50 Millionen Mark sitzen bleiben könnten, sagte Kopper lächelnd: „Wir reden hier eigentlich von Peanuts.“

Als Griechenland Staatsbankrott anmeldete, dachte Schneider sofort wieder an die eigene Geschichte: „Keine Frage: Die Griechen haben getrickst. Aber auf der anderen Seite saßen Leute, die sich austricksen lassen wollten und die die Unterlagen deshalb nicht richtig geprüft haben.“ Sein Fazit: „Mit der Krise ist endgültig klar geworden, wie die Banken arbeiten.“

Er lehnt sich im Speisewagen zurück und erklärt, „das alles hätte man früher wissen können, hätte man meinen Fall als Lehre verstanden“. Ein wenig Größenwahn steckt noch immer in ihm.

Dabei schreibt er in seinem Buch, ihm seien während der Gerichtsverhandlung die Augen aufgegangen: „Was ich in dieser Zeit erfahren habe, ist wertvoller als alles, was die Welt mir vorher bot. Der Prozess gab mir die Chance, meine Fehler zu begreifen.“ Dieser Mann, der mit seinen Spekulationen und Betrügereien vieles dafür getan hatte, seine Familie auseinanderzubringen, der seine Frau zu Unterschriften unter Kreditanträgen überredet hatte, die sie schließlich ins Gefängnis brachten, scheint nun immerhin eines tatsächlich zu glauben: „Die Menschen, die man liebt, sind am Ende das Wichtigste im Leben.“ Wenig später kommt seine Frau ins Bordrestaurant, bringt ihm eine Stulle und sagt: „Du kommst rechtzeitig zu mir, damit wir zusammen aus dem Zug gehen, nicht?“

Jürgen Schneider sitzt aufrecht. Konzentriert blickt er aus dem Zugfenster, in dem vorbeifliegende Wiesen zu grünen und Orte zu grauen Streifen werden. Sein Gegenüber schaut er kaum an, so als wolle er sich nicht ablenken lassen von all dem, was er mitteilen möchte. Damals im Prozess sagte er etwas, das er auch in seinem Buch geschrieben hat: „Ich habe den Drang, etwas Bleibendes zu schaffen.“ Mit diesem Satz wollte er die Besessenheit erklären, mit der er alte Immobilien ankaufte und teuer restaurierte. Hat er diesen Drang heute noch? Er gibt eine Antwort, die keine ist: „Ich habe meiner Frau den Schwur geleistet, nie wieder eine eigene Immobilie zu besitzen. Das ist also vorbei.“

Man hat den Eindruck, ein wenig Bedauern läge in seiner Stimme. Und dann sagt er, wie zur eigenen Beruhigung. „Ich habe nie den Stolz auf mein Lebenswerk verloren. Meine Häuser stehen auch in hundert Jahren noch.“

Stunden später. Das Licht im Saal des Theaterhauses Stuttgart geht aus. Und bald ist klar: Der Jürgen Schneider im Theaterstück ist ein sympathischer Betrüger, der sich, besessen von alten Häusern, immer weiter in Lügenmärchen verstrickt, bis alles auseinanderbricht; der am Ende sogar froh darum ist, weil er endlich richtig frei sein kann; der lustige Geschichten aus der Haft erzählt. Zum Beispiel die: Im Gefängnis in Florida hatten die Mitgefangenen gehört, dass Schneider die Banken um fast zehn Millionen Dollar gebracht hatte. Sie behandelten ihn deshalb wie einen Big Boss und machten ihm Geschenke.

Die Banker hingegen treten als raffgierige Männer auf, immer auf der Suche nach der höchsten Provision. Sie scheffeln ständig Sand in Taschen und Koffer.

Nach zwei Minuten lacht Jürgen Schneider das erste Mal, als Einziger im Zuschauerraum, und sagt so laut, dass es die Reihen vor und hinter ihm hören können, „genau so war es“. Der Jürgen Schneider auf der Bühne erzählt da gerade, wie er immer neidisch auf das Frühstücksei des Vaters geschaut hat, denn für den Sohn gab es keines.

Schneider verfolgt den Rest des zweieinhalbstündigen Stücks mit einem Lächeln. Nur bei der vorletzten Szene hat er Tränen in den Augen, als Jürgen Schneider aus der Haft entlassen und von Claudia Schneider innig umarmt wird. Die Läuterung – man möchte sie ihm in dem Moment gern glauben.

Dann die letzte Szene: Das Ehepaar Schneider, glücklich und aufrecht, lacht lange und laut über die Banker, die immer noch verbissen und offensichtlich unglücklich gebückt Bausand in ihre Aktenkoffer schaufeln, der doch sofort wieder herausrieselt. Vielleicht kann Unglück manchmal wirklich glücklich machen.

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