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Begegnung mit Peter Scholl-Latour: So weit die Worte tragen

Er hat alle Regionen der Welt bereist in seinen 88 Lebensjahren. Peter Scholl-Latour glaubt nämlich, dass man ein Land gesehen haben muss, um dessen Probleme zu begreifen. Der Journalismus war ihm dafür nur Mittel zu einem ganz eigenen Zweck: „Ich wollte was erleben“.

Mit ihm über Weltpolitik reden zu wollen kann man natürlich gleich vergessen. Es redet nur einer. Er.

Man sitzt da, hört zu, nickt an passenden Stellen. Seine Stimme schabt wie ein loses Unterbodenblech über Asphalt. Worte pflegt er durch seine geschlossenen Zähne zu pressen. Das ist seine Art der Ökonomie und der Grund für diesen fortgesetzt zischelnden Singsang, diesen Scholl-Latour-Sound.

Man versucht es mit – Herr Scholl-Latour, wäre … – aber nein. Man hebt einwendend den Stift … – erst recht nicht. Man denkt an das mitlaufende Tonband und dass man sich später alles noch einmal wird anhören müssen. Sätze wie: „Der Intendant war Eichenlaubträger des Zweiten Weltkriegs, er verstand was von militärischen Dingen.“ Oder: „Ich war damals in Moskau, als das Land nach Glasnost in Elend und Unsicherheit versank.“ Oder: „Assad wäre ja viel lieber Augenarzt in London geblieben. Ich habe ihn persönlich Ende Dezember getroffen. Es war off the record, aber er hat mir auch nichts Interessantes verraten.“

Scholl-Latour ist ein Reisender, dessen Reisen in seinem Kopf immer weitergehen. „Im vergangenen Jahr war ich in Algerien, Tunesien, Libyen, als die Sache da noch voll im Gange war, in Ägypten, Irak, Iran und Afghanistan.“ Ein Gefühl, schwer wie Jetlag, legt sich in den Körper. Man denkt, was war noch mal die Ausgangsfrage?

Peter Scholl-Latour ist da gerade bei seinem Lieblingsthema angekommen, der Vergänglichkeit der Imperien und der dem Abendland unbegreiflichen Gefahr, selbst davon betroffen zu sein. Es treibt ihn um. Die deutschen Weltretter sind ihm da ein besonderes Ärgernis. Weil offensichtlich zu dumm, um die Zusammenhänge zu sehen. „Orientalisten sind ja hierzulande“, schnaubt er, „hauptsächlich Philologen. Die fahren nicht zu den Stämmen, um mit denen zu reden.“

Er wird im Verlauf dieses Vormittags noch öfter anmerken, wie gut man mit diesen oder jenen Männern ins Gespräch kommen könne. Vorzugsweise solchen, vor denen sich die deutsche Öffentlichkeit fürchtet. Nur mit dem Weltreisenden Peter Scholl-Latour selbst – „ich war in jedem Land der Welt“ – gelingt das nicht so gut. Bei Zwischenfragen verzieht er das Gesicht wie unter Schmerzen, hält eine Hand hinter das Ohr, in dem ein Hörgerät steckt. Darf man ihn anbrüllen?

Diese Audienz ist Zwei-Personen-Fernsehen. Nur der Welterklärer und sein Zuschauer. Ein Privileg also. Scholl-Latour hat in seiner in ein verschwenderisch hohes Dach hineingebauten Charlottenburger Wohnung auf einem asiatisch gemusterten Fauteuil Platz genommen. Wie immer elegant gekleidet, die Haare nach hinten gekämmt, ein Seidentuch um den Hals gebunden. Die Wohnung hatte er sich vor dem Mauerfall zugelegt, weiß der Teufel, warum. Immerhin liegt sie in der Gegend Berlins nahe dem Kurfürstendamm, die wenigstens entfernt an sein Paris erinnert, wo er bis heute eine Wohnung unterhält.

Über ihm an der Wand das sehr alte, seltene Bildnis vom Hof des Sultans. Zu sehen darauf, was auch sein Leben geprägt hat: Der orientalische Herrscher empfängt auf ein Kissen gebettet den Gesandten des römischen Kaisers. Der sitzt ihm auf einem Schemel gegenüber. Zwei Männer, zwei Kulturen, sie reden miteinander. Von Scholl-Latour gibt es ein ganz ähnliches Bild. Da hockt er als einziger westlicher Journalist an der Seite Khomeinis auf einem Teppich, als dieser 1979 in den Iran zurückkehrt. Heute sagt Scholl-Latour: „Der Iran ist viel harmloser, als man denkt.“

Unter anderem diesem Khomeini-Bild verdankt Scholl-Latour seinen Status als Klassiker der Reportage. Dabei sei der Journalismus für ihn nur Mittel zum Zweck gewesen, sagt er, „ich wollte was erleben“. Was man ihm erst mal schwer abnimmt als ehemaligem Fernsehdirektor des WDR und „Stern“-Chefredakteur. Doch er beharrt darauf. Und hat er nicht als Autor des – bis Thilo Sarrazin – meistverkauften deutschsprachigen Sachbuchs über Vietnam und von zahlreichen Fernsehdokumentationen ein eigenes erzählerisches Genre erfunden? „Unser Mann da draußen“, schrieb der „Spiegel“ über Scholl-Latour zur Veröffentlichung von dessen 27. Buch. Nun erscheint sein 33., er wird es am heutigen Dienstag im Adlon-Hotel vorstellen. Nur eine Autobiografie, die er seinem Verlag versprochen hat, steht weiterhin aus. Wie viele Gelegenheiten für eine Begegnung gibt es da noch? Scholl-Latour hat mit 88 Jahren ein Alter erreicht, bei dem man nicht mehr allzu viel auf Verabredungen geben sollte.

Da schmunzelt er.

Ach ja, die Ausgangsfrage: Was soll die Bundeswehr in Mali, Herr Scholl-Latour?

„Die Sicherheit Deutschlands wird viel eher in Mali als am Hindukusch verteidigt“, sagt er. „Dort, weit hinter den Bergen, verteidigt die Nato allenfalls die Sicherheit Russlands, das von Süden her von Islamisierung bedroht ist ...“

Die Antwort hört damit natürlich nicht auf. Wer kann das schon, die politische Analyse so elegant über Kontinente und Interessensphären hinaus anlegen? In Scholl-Latours Kopf hängt alles mit allem zusammen. Weshalb er einen weiten Bogen schlägt von den Mudschaheddin um Gulbuddin Hekmatyar, die er gegen die Sowjets kämpfen sah, bis nach Syrien, wo die Nato im Begriff sei, denselben Fehler, den sie in Afghanistan gemacht habe, zu wiederholen. Die „massive Parteinahme“ der Amerikaner für die Rebellen bringe gerade eine Organisation an die Macht, „die man vielerorts Al Qaida nennt“.

Sie machen also wieder mal alles falsch im Westen. Und kapieren es nicht mal. Aber vielleicht braucht Scholl-Latour die Unfähigkeit der Geheimdienste auch nur als Blitzableiter. Denn an ihr zeigt sich, was er ohnehin für ausgemacht hält: Dass die weiße Hegemonie nicht nur im kolonialen Sinne, sondern auch im geistigen und wirtschaftlichen zu Ende ist und Europa auf seine geografische Dimension reduziert wird. Dass eben nicht passieren sollte, was aber dann doch immer wieder geschieht wie auf der Frankfurter Buchmesse, wo er zwecks Vorstellung seines 33. Buches Zeuge davon wurde, dass ein chinesischer Oppositioneller in seiner Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels die Aufspaltung Chinas forderte. Der habe dafür standing ovation bekommen, erzählt Scholl-Latour konsterniert. „Die sind verrückt geworden, die sehen gar nicht die Dimension, die China hat. Europa ist ein Kap Asiens.“

Es mag nicht ungewöhnlich sein für einen alten Mann, Untergangsängste zu kultivieren. Seinen eigenen Untergang kann er ja schließlich nicht mehr ignorieren. Aber Scholl-Latour ist kein Pessimist. Sein Gesicht kennt nur zwei Regungen: Empörung, dann zieht er erstaunt die Brauen hoch; und Belustigung, dann lächelt er fein und seine Stimme kratzt nicht mehr. Es ist der Minimalismus eines Mannes, der alles besser weiß, der französische Zitate immer erst im Original wiedergibt, bevor er sie übersetzt, der auf Arabisch Koranverse einzustreuen versteht. Es ist höchst vergnüglich, ihn Sätze formulieren zu hören, die sich demokratisch geben, damit das Volk sie versteht, aber eigentlich fortgesetzt von dessen Einfalt und Verführbarkeit erzählen.

Wenn Scholl-Latour deutlich machen möchte, wie gut er ein Land kennt, dann sagt er, er sei dort gewesen. Meist hat er dann auch mit einer maßgeblichen Figur gesprochen. Neulich in einer Talkshow von Anne Will, in der es um die Umbrüche im arabischen Raum ging, konnte das einer seiner sehr viel jüngeren Gesprächspartner auch von sich behaupten. Der berief sich auf die Facebook-Generation, die er in Libyen getroffen hatte, und dass die hinter der Revolution stehe. Scholl-Latours Arm knallte auf die Sessellehne wie ein Fallbeil. Die Jungs, die mit Facebook rumspielten, seien bedeutungslos, bellte er. „Um eine Revolution zu machen, braucht man Schläger und Ganoven.“

Macho, klar. Aber auch irgendwie bestechend.

In seinem Dachgeschoss ist Scholl-Latour, während es auf Mittag zugeht, weniger rabiat. Seine Abschweifungen ziehen ihn gelegentlich aus dem Sofa, in dem er mehr liegt als sitzt, um schleppenden Schrittes die rote Fibel Papa Docs, des Diktators von Haiti, zu holen, die dieser ihm mal mit persönlicher Widmung geschenkt hatte. Oder um stolz auf ein Prunkstück zu zeigen. Es ist eine Kalligrafie, die der Bruder des letzten chinesischen Kaisers Pu Yi für ihn gefertigt hatte. Der eine ein Ganove, der andere ein Opfer der Revolution.

Scholl-Latour ist von ganzem Herzen Republikaner, in seiner ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Also ein Kind der Revolution. Wieso kommt er dann aber immer so konservativ rüber?

Sein Lebensthema sind die elementaren Kräfte, die an den Gesellschaften zerren. Weil die Menschen sich eher mit ihrem Glauben identifizieren als mit einem Staat. Er selbst ist früh solchen Kräften ausgeliefert gewesen. Als Zwölfjähriger war der Arztsohn aus Bochum auf ein Jesuiteninternat in der Schweiz geschickt worden. Der dort mit Strenge praktizierte Katholizismus war eine gute Schule für den Fundamentalismus, der ihm später vielerorts begegnen sollte.

Aber vor allem musste er bald lernen, sich auf die Anständigkeit fremder Menschen zu verlassen. Denn in der Schweiz konnte er nicht bleiben. Seinen Eltern wurden von den Nationalsozialisten die Geldüberweisungen untersagt. So musste der Sohn nach Deutschland zurück, wo er unter die Nürnberger Rassegesetze fiel, aber erneut in einem katholischen Gymnasium in Kassel Aufnahme fand. Nur will Scholl-Latour nicht, dass man Aufhebens darum macht. Wer ihn kenne, sagt er, wisse sowieso, was ihm nach seinem Abitur 1943 widerfahren ist. Und dann ist da ja leider noch die Autobiografie. „Ich habe einen Vertrag unterschrieben.“

Also nur so viel, dass er in Berlin in einem Bankhaus am Gendarmenmarkt arbeitete und bei Leuten untergebracht war, die mit dem militärischen Widerstand sympathisierten. "Erst haben mich die Katholiken geschützt", kichert er, "dann die Pietisten." Als er trotzdem fürchtete, gefasst zu werden, floh er. Aber wohin sollte er sich wenden? Wenn er im Westen versucht hätte die alliierten Linien mit einem beherzten Sprung in die Mosel zu erreichen, hätten sie von beiden Seiten auf ihn geschossen. Also wählte er den Balkan als Ausweg. Titos Untergrundarmee. In Prag war seine Flucht zu Ende. Im Gestapo-Keller in Graz bekam der 20-Jährige Flecktyphus. „Wir haben angestanden in der Reihe, wir waren ja alle mehr oder weniger an der Ruhr erkrankt, die Scheiße lief an uns herunter. Und dann schrie der Wachhabende: ,Die bringen uns hier nur Seuchen rein, die erschießen wir jetzt.’ Dann haben wir uns aufgestellt.“

Er hatte angegeben, Lothringer zu sein und war mit Franzosen zusammengepfercht. Da, 1945, fing es an mit dem republikanischen Geist. Ob Adeliger, Intellektueller oder er, derlei Unterschiede wurden in der Zelle nicht gemacht. Und er fand sich auch aufgehoben in der französischen Kolonialinfanterie, der er nach dem Krieg beitrat, um nach Indochina verschifft zu werden. In dieser republikanischen Armee dienten ehemalige SS-Soldaten, Flüchtlinge aus Osteuropa, Kollaborateure, sogar der Klassenunterschied zwischen Verbrechern und Pflichtbürgern galt nichts mehr.

Im Islam begegnete Scholl-Latour später die Klassenlosigkeit erneut. Es gibt keinen Klerus, keinen Adel, der seine Vorrangstellung auf eine göttliche Ordnung zurückführen kann. In der Moschee steht vor den Gläubigen kein Geistlicher, sondern derjenige, der sich in der Religion am besten auskennt und als rechtschaffener Mann gilt. Die Führungsgestalten gehen aus dem Volk hervor.

Scholl-Latour ist hin- und hergerissen zwischen diesem egalitären Element des Islam und dessen autoritärer Wortgläubigkeit. Und man selbst ist erschöpft. So viele Länder, Führer und Wortführer. Moscheen, die aus den abgeschlagenen Köpfen der Besiegten aufgeschichtet wurden - „grässlich, nicht wahr?“ –, und religiöse Fehden, die Jahrtausende überdauern. So vieles wäre da noch. Bitte, Herr Scholl-Latour, eine letzte Frage.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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