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Beitrittsgespräche: Türkei will Entscheidung über EU-Mitgliedschaft in drei Jahren

2014 sieht sich die Türkei reif für den EU-Beitritt. Ankara verschärft Ton gegenüber Kritikern in Europa – einen Abbruch der Verhandlungen halten Experten jedoch für unwahrscheinlich.

Die türkische Regierung drängt die Europäer zu einer endgültigen Entscheidung für oder gegen eine Aufnahme ihres Landes. Anfang 2014 werde die Türkei technisch gesehen reif für den Beitritt sein und deshalb einen „Konsens“ in der EU einfordern, sagt Europa-Minister Egemen Bagis. Die Äußerungen des Verhandlungsführers bei den Brüsseler Beitrittsgesprächen zeigen den wachsenden Unmut in Ankara angesichts des schleppenden Fortschritts bei der türkischen Europa-Bewerbung. Eine neue Studie des Polit-Institutes ESI sagt zwar voraus, dass es keinen Abbruch der türkischen EU-Gespräche geben wird. Einige westeuropäische Politiker sind sich aber da nicht so sicher.

Bagis verwies bei einer Analyse des jüngsten EU-Fortschrittsberichts in Istanbul darauf, dass die Türkei bei den Reformen vorankomme, obwohl gut die Hälfte der 35 erforderlichen Verhandlungskapiteln wegen des Zypern-Konfliktes und anderen politischen Problemen gesperrt seien. Die türkische Seite bemüht sich nach seinen Worten darum, die EU-Vorgaben auch in jenen Bereichen zu erfüllen, die aus den Verhandlungen ausgeklammert sind. „Das ist ein sehr deutliches Beispiel für die Entschlossenheit der Türkei in Sachen Mitgliedschaft“, sagte Bagis.

Ein sehr optimistisches Bild

In einem vor drei Jahren verabschiedeten Nationalen Programm hatte sich die türkische Regierung zur Umsetzung der EU-Anforderungen unabhängig vom Fortgang der Verhandlungen in Brüssel unabhängig. Das Ankaraner Programm sieht die Übernahme von mehr als hunderttausend Seiten der EU-Gesetzgebung bis zum Ende des Jahres 2013 vor. „Das bedeutet, dass wir im Januar 2014 technisch gesehen für die Mitgliedschaft bereit sind“, sagte Bagis. „Von 2014 an werden wir in der EU den Konsens suchen“, um den Beitritt zu ermöglichen. Alle 27 EU-Staaten müssen einer türkischen Mitgliedschaft zustimmen.

Was die Erfüllung der EU-Bedingungen betrifft, zeichnete Bagis ein sehr optimistisches Bild. Trotz eines starken Wirtschaftswachstums und trotz vieler Reformen in den vergangenen Jahren ist die Türkei bei etlichen Kriterien noch weit von EU-Standards entfernt. Die Umsetzung beschlossener Gesetze, etwa bei der Meinungsfreiheit, ist häufig ungenügend. Auch ist von dem politischen Konsens, der von Bagis angesprochen wurde, weit und breit nichts zu sehen. Einige EU-Länder wie Frankreich lehnen den türkischen Beitrittswunsch offen ab, andere Staaten wie Deutschland haben ebenfalls Vorbehalte.

Abbruch der Verhandlungen ist unwahrscheinlich

Dem türkischen Selbstbewusstsein tut das keinen Abbruch. Europäische Politiker wie der ehemalige britische Außenminister Jack Straw hätten eingesehen, „dass die EU die Türkei dringender braucht als die Türkei die EU“, sagte Bagis. Außenminister Ahmet Davutoglu sagte vergangene Woche, die türkische Bewerbung sei für die EU ein „Test“. Europa könne mit der Türkei zu einer politischen und wirtschaftlichen Weltmacht werden, oder ohne die Türkei zu einer „wirkungslosen, in sich gekehrten Kontinentalmacht“ verkümmern. Ein westeuropäischer Spitzenpolitiker, der nicht genannt werden wollte, sagte kürzlich nach Gesprächen in Ankara, möglicherweise werde sich die Türkei angesichts des Widerstandes in der EU in den kommenden Jahren dafür entscheiden, die Beitrittsverhandlungen einzustellen.

Eine Analyse der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) kommt zu dem Schluss, dass dies sehr unwahrscheinlich ist. Sowohl auf türkischer als auch auf europäischer Seite sei ein Beschluss zum Abbruch der Beziehungen sehr unwahrscheinlich. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU glichen deshalb einer katholischen Ehe, hieß es bei ESI: „Eine Scheidung ist nicht vorgesehen.“

Nicht auf Reform-Impuls verzichten

Bei allem Frust über die Europäer will Ankara zumindest derzeit auf die Reform-Impulse aus Brüssel noch nicht verzichten. „Die EU ist so etwas wie unser Ernährungsberater“, sagte Bagis. „Wir wissen alle, dass wir uns gesund ernähren und uns bewegen sollten, und doch liegen wir lieber vor dem Fernseher und essen Eis.“ Die Veränderungen in der Türkei in den vergangenen Jahren seien vor allem auf die Forderungen der EU zurückzuführen.

Dass die Türken die EU dauerhaft als Impulsgeber haben wollen, ist aber nicht sicher, sagt sogar Staatspräsident Abdullah Gül, der zu den wichtigsten Vertretern des pro-europäischen Lagers in Ankara zählt. Vielleicht würden die Türken eines Tages sagen: „Wir haben die Reformen gemacht, wir sind auf EU-Stand, und das reicht uns“, sagte Gül kürzlich der BBC: In diesem Fall würden sich die Türken möglicherweise selbst gegen einen EU-Beitritt entscheiden.

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