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Politik: Belfast: Der Terror entlässt seine Kinder

Rauchen und Rotwein trinken, das ist in diesen Tagen gut für Chris McGimpseys strapazierte Nerven. "Der Rotzjunge, der mein Auto anzünden wollte, ich kenne seine Großmutter", schimpft er, dann zündet er sich eine weitere Zigarette an und nippt am Weinglas.

Rauchen und Rotwein trinken, das ist in diesen Tagen gut für Chris McGimpseys strapazierte Nerven. "Der Rotzjunge, der mein Auto anzünden wollte, ich kenne seine Großmutter", schimpft er, dann zündet er sich eine weitere Zigarette an und nippt am Weinglas. Seit sechs Wochen spielt der Belfaster Stadtrat für seinen erzprotestantischen Shankill-Bezirk den Feuerwehrmann: Er ist so schnell wie möglich zur Stelle und hilft, wo er kann. Aber manche Jugendliche nehmen dem Lokalpolitiker das offensichtlich übel.

"The Shankill", wie die Eingeweihten das Belfaster Viertel nennen, ist zum Kriegsschauplatz geworden: Protestantische Untergrundkommandos befehden sich untereinander bis aufs Blut. Drei Menschen haben sie bislang getötet. Zuletzt fand die Polizei am Sonntag die Leiche eines jungen Mannes, der Körper war mit Prellungen übersät. Mehr als 200 Familien haben die brutalen Kommandos aus ihren Häusern vertrieben.

McGimpsey tut sein Bestes, um den Vertriebenen ein neues Dach über dem Kopf zu vermitteln. Er gehört zu keiner der beiden streitenden protestantischen Gruppen, weder zur paramilitärischen Miliz Ulster Defence Association (UDA) noch zur Ulster Volunteer Force (UVF). McGimpsey vertritt die bürgerliche Unionistenpartei des Chefministers David Trimble. Die Diagnose des Stadtrats ist hart. In seinem Viertel sieht er nur noch "eine brutalisierte Gesellschaft, deren Helden Mörder sind".

Gary McMichael sieht das nüchterner. "Seit der Friedensprozess begann, ist der Feind leider verschwunden", sagt er. "Wir beobachten ein Viertel, das sich aus ziemlich geringfügigen Gründen selbst zerfleischt." McMichael steht an der Spitze einer kleinen Partei, die aus der mächtigen UDA herauswuchs. Deren Shankill-Division unter der Führung des inzwischen verhafteten Johnny "Mad Dog" Adair zettelte die offene Fehde an - darin zumindest sind sich alle einig. Adair ließ eine große Wohnsiedlung innerhalb von drei Wochen "säubern", wer nicht für ihn war, wurde vertrieben. Die Täter sind zwischen 14 und 24 Jahren alt und arbeitslos, wie McGimpsey weiß. Sie haben nichts, was sie an die Gesellschaft bindet. "Jetzt verfügen sie über Status und Macht, und sie folgen ihren Rädelsführern blindlings." Nach den ersten Vertreibungen von Familien feierten diese Helden einen "Rave", schluckten Drogen und verlasen unter lautem Beifall eine Liste mit den Namen ihrer Opfer.

"Drogen sind schlimmer als die IRA"

"Was sind wir für eine Gesellschaft?", wundert sich David Ervine: "200 Familien auf zwei Quadratmeilen werden vertrieben, aber das wird einfach als Territorialstreit unter Gangstern hingenommen." Ervine tut dasselbe wie Gary McMichael, aber für die andere Seite in diesem Konflikt. Ervines Partei spricht für die UVF und hat, wie er selbst sagt, in den letzten paar Jahren zu beweisen versucht, dass die "Loyalisten", wie sich die militanten Protestanten Nordirlands nennen, "eben nicht bloß hinterwäldlerische Neandertaler sind". Aber in diesen Tagen leidet die Glaubwürdigkeit dieser Politiker, die aus den Terrorkommandos herauswuchsen. Sind sie Häuptlinge ohne Indianer geworden? Alle beklagen sich, dass sie gar nicht mehr dazu kommen, Politik zu betreiben, weil sie im eigenen Viertel ständig neue Streitigkeiten schlichten müssen, damit der Krieg nicht eskaliert.

"Die Politik ist auf Pausentaste", stellt Ervine nüchtern fest. Er wird nicht müde zu behaupten, die Fehde drehe sich um die Kontrolle des Drogenhandels, und er beschuldigt die britischen Sicherheitskräfte, absichtlich untätig zuzuschauen, um die Sieger dann besser manipulieren zu können. Gleichzeitig behauptet Ervine, letztlich gehe es um einen Kampf zwischen Friedensgegnern (Adairs Bataillon im Shankill) und Friedensbefürwortern (alle anderen). Viele Beobachter sind sich da nicht so sicher. McMichael meint, man könne die Analyse auch zu weit treiben. "Es geht um kindischere Dinge, als manche behaupten." Drogen, da sind sich alle einig, spielen eine Rolle, aber ob der Kampf um diesen lukrativen illegalen Markt ausschlaggebend ist, wird von vielen bezweifelt. "Drogen bedrohen diese Gesellschaft mindestens ebensosehr wie einst die IRA", sagt McMichael. Aus dem Mund des politischen Sprechers einer protestantischen Untergrundorganisation ist das eine mutige Aussage.

So herrscht Ratlosigkeit in Belfast, während die nächtlichen Attacken andauern, und der Shankill, der sich stets als Zitadelle protestantischen Widerstands verstand, zerfällt. "Wenn man sich Belfast als eine grüne Hand vorstellt, dann ist der Shankill der orange Mittelfinger", beschreibt McGimpsey das von Katholiken umgebene Protestantenviertel. "Wir überlebten, weil wir wachsam waren und die Leute Angst vor uns hatten." Nun, fürchtet er, werden die Vernünftigen und Parteilosen dem Viertel den Rücken kehren.

Maggie Graham ist eine der Frauen, denen Stadtrat McGimpsey geholfen hat. Jetzt erzählt sie von ihrer Schwester, die von zwei Schwägerinnen mit Ketten verprügelt wurde. Die Gräben ziehen sich mitten durch die Familien im Shankill-Bezirk hindurch. McGimpsey hat deswegen wenig Hoffnung, dass sich der Konflikt schnell lösen lässt. "Mit dem äußeren Feind kann man fertig werden", sagt er, "wie aber geht man mit dem Feind um, der deine eigene Tochter geheiratet hat?"

Martin Alioth

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