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Ihr sollt nach Hause gehn. Eine Demonstrantin versucht in Baltimore, den Protest mit einem Plakat eigenhändig zu beenden.

© John Taggart/dpa

Bericht aus Baltimore: Armut, Drogen, Polizeischikanen

Baltimore ist nur eine jener US-Städte, in denen sich die Wut der Schwarzen zusammenballt. Viele Jugendliche gehen nicht davon aus, den 21. Geburtstag zu erleben. Ein Bericht aus einer desolaten Stadt.

Es ist 22.08 Uhr. Seit acht Minuten gilt in ganz Baltimore die Ausgangssperre. Eine Großstadt von 622 000 Menschen muss bis fünf Uhr am nächsten Morgen in den Häusern verschwinden. Noch aber halten an der Ecke North Avenue und Pennsylvania im Westen Baltimores etwa 150 fast ausschließlich schwarze Protestierer die Stellung. Die Polizei hat eine Kette gebildet, Schild an Schild stehen die Polizisten. Drei Polizeihubschrauber kreisen in der nächtlichen Dunkelheit über der Kreuzung.

Aus dem Polizeilautsprecher hören die Menschen einen Satz, der so in Amerika vielleicht noch nie gesagt wurde: „Ich fordere Sie nicht auf, ich bitte Sie inständig, nach Hause zu gehen“, sagt der Polizeibeamte. Vor der Polizeikette tanzt eine Frau, sie hält ein gelbes Plakat in die Höhe: „Go home“, steht darauf in schwarzen Buchstaben, „Fight another day“. So wird es kommen, in St. Louis, in Columbia oder in einer anderen Stadt. Baltimore ist nur das Glied in einer Kette von Städten, in denen sich Armut und Wut der Schwarzen zusammenballen. Nichts zeigt die Hilflosigkeit der USGesellschaft deutlicher als ihr schwarzer Präsident, der am Dienstag im Rosengarten des Weißen Hauses vor die Kameras trat und die Randale verurteilte, die durch den Tod des Afroamerikaners Freddie Gray in Polizeigewahrsam ausgelöst worden ist. Das, was man in Baltimores Westen gesehen habe, sei „kein Protest“, sagte Barack Obama. Umständlich formuliert, doch gut zu verstehen wies Obama aber auch auf „Interaktionen“ zwischen Polizisten und Schwarzen, zumeist armen Jugendlichen hin, die „beunruhigende Fragen aufwerfen“. Und man solle nicht so tun, als ob dies etwas Neues sei. „Das war eine langsam anrollende Krise“, sagte Obama. In der Nacht auf Mittwoch, nach der Ausgangssperre, war Baltimore wie ausgestorben. Am Abend sollte das Baseballteam der Stadt ein Heimspiel haben, vor einer Geisterkulisse. Die Ausgangssperre gilt die gesamte Woche über. Aber Antworten auf die Frage, wie mit Polizeigewalt, Rassismus und Hoffnungslosigkeit großer Teile der schwarzen Gesellschaft umgegangen werden soll, haben weder Obama noch die Polizei noch die schwarze Bürgermeisterin der Stadt.

„Ein Aufruhr ist die Sprache der Ungehörten“, zitiert Warren Savage den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King jr. Der Prediger der „Simmons Memorial Baptist Church“ blickt über die tanzende Menge vor seiner Kirche an der Pennsylvania Avenue. Nur eine Ecke weiter trampeln Leute durch die schwarzen Überreste der ausgebrannten „CVS“-Drogeriefiliale. Schräg gegenüber harrt die Polizei in Formation aus. Warren unterstützt keine Gewalt und keine Plünderung. Verurteilen will er sie jedoch nicht. Die Kids hier, sagt er, „kennen vor allem Armut, Drogen und Polizeischikanen“.

Der Mann mit dem weinroten T-Shirt der theologischen Fakultät der Universität von Virginia ist in diesem Viertel aufgewachsen, Sandtown Winchester, 98,5 Prozent schwarze Bevölkerung, knapp 10 000 Menschen. Sandtown, sagt Savage, habe ihn zum Gangster gemacht. „The Wire“, die TV-Serie, von vielen als die Mutter aller Fernsehserien bezeichnet, spielt in Baltimores Westen. Sie handelt von Drogen, Kriminalität, Korruption der Polizei und Beziehungsgeflechten. Warrens Gang lieferte die Vorlage dazu. Und heute, Warrens Blick fällt auf „Avenue Groceries“, einen kleinen Lebensmittelladen auf der anderen Straßenseite, „heute ist es kaum anders“. Der Laden hat hauptsächlich Alkohol im Angebot. „Viele junge Leute hier gehen davon aus, nicht 21 Jahre alt zu werden“, sagt Warren. Alkohol, Drogen, Mord, man brauche sich nicht wundern, wenn die nicht an irgendwelche Konsequenzen ihres Tuns denken würden.

„Die Väter sind im Gefängnis und stacheln sie auf", meint der bekehrte Kriminelle. Kindheit in Sandtown bedeutet abgestelltes Wasser zuhause, kein Platz zum Spielen, kein Schwimmbad im Sommer. „Die Menschen hier stehen oft vor der Entscheidung Essen oder Miete, Essen oder Gasrechnung", sagt Warren und zeigt auf die abbruchreifen Häuser.

Um 22.30 Uhr, eine Menge Plastikflaschen sind in Richtung Polizei geflogen, setzt diese die Ausgangssperre durch. Beißender Rauch verteilt sich auf der Kreuzung und dringt in die anliegenden Straßen. Tränengaskartuschen vertreiben die jungen Schwarzen. Die Tücher vor ihren Gesichtern schützen sie nicht. „Es ist Zeit für die Schlacht“, hatte gerade noch ein Jugendlicher gerufen. „Go home. Fight another day“, die Frau mit ihrem gelben Plakat ist schon auf dem Heimweg.

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