zum Hauptinhalt
Katrin Manke.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Friedhof Nordend: Ein Leben für den Tod

Da, wo keiner wohnen will, hat Katrin Manke ihre Heimat gefunden. Auf dem Friedhof Nordend. Seit 30 Jahren lebt und arbeitet sie dort. Hütet das Andenken der Toten. Doch Bräuche ändern sich. Die Menschen leben länger – und Friedhöfe sterben.

Wie schön haben es doch die Toten, dass jetzt ein Wald auf ihren Gräbern steht. Ihre Namen und Schicksale sind längst vergessen. Aber in den Bäumen leben sie fort.

„Wenn man gar nicht eingreift, kommen die Eichen am besten“, sagt Katrin Manke, die Leiterin des evangelischen Friedhofs Nordend in Berlin-Rosenthal. Im Ostteil des Gottesackers verliert sich die Allee zwischen Büschen, rechts und links versinken Grabsteine im Gras. Von all den verwunschenen Plätzen, die der Kirchhof zu bieten hat, ist ihr dieser am liebsten. Der Stille wegen und weil hier keiner etwas von ihr will. Eine Stille voller Geräusche, Vogelrufe, von Ferne hört man das Brausen der Stadt.

So viel Tröstliches auch in der Vorstellung liegen mag, dass die Natur am Ende alles andere überdauert, für Katrin Manke besteht genau darin die größte Herausforderung. Was für ein herrlicher Anblick die breiten Kronen der alten Bäume auch sind, sie muss trotzdem sofort daran denken, dass ja der Baumdienst bald wieder bestellt werden sollte. Der Blätterteppich raschelt bei jedem Schritt, kaum ist ein Weg geharkt, ist er auch schon wieder zugeweht. In kalten Wintern kämpfen sie mit viel Schnee. Ein Friedhof hat ganzjährig die Verkehrssicherheit zu gewährleisten, so steht es im Gesetz. Und das kostet.

Dazu muss man wissen dass „ihr Friedhof“ in Ost-Berlin aus den historischen Kirchhöfen „Gethsemane“ und „Zion“ der Gemeinden im Osten und „Frieden“ und „Himmelfahrt“ im Westen entstand. Um das Gelände vor dem Zugriff des SED-Magistrats zu retten, machte die Kirche nach dem Mauerbau aus den vier Friedhöfen einen einzigen, nun aber mit einer Gesamtfläche von mehr als 40 Hektar. So groß ist das Revier von Katrin Manke, für das sie seit mehr als dreißig Jahren erst als Gärtnerin, später als Leiterin verantwortlich ist. Haben sie früher hier zu Ostzeiten zu zwanzigst Tote beerdigt und den Friedhof gepflegt, muss sie heute mit vier Angestellten die gleiche Arbeit verrichten. Manchmal wird ihr vom Amt eine Maßnahme bewilligt.

Ihrem Friedhof gehen die Toten aus.

Was nützt es, wenn von ihr die Pflege einer der Würde der Toten entsprechenden Bestattungskultur erwartet wird, die Gesellschaft draußen aber ihre Friedhöfe vergisst? Energisch widerspricht Katrin Manke der gängigen Annahme, die Friedhöfe würden mit Mitteln aus der Kirchensteuer ausgestattet. Im Gegenteil, „ein Friedhof ist heute vor allem ein ganz moderner Wirtschaftsbetrieb“. Die 52-Jährige kann also selbst zusehen, wo sie das nötige Geld dafür auftreibt. Dabei ist durchaus eine gewisse Fantasie gefragt, denn so weit, dass Teile des geweihten Bodens veräußert werden, ist man beim evangelischen Friedhofsverband noch nicht.

Während auf der Sollseite die Lohnkosten, die Ausgaben für den Unterhalt der öffentlichen Toiletten, den Denkmalschutz und die allgemeine Instandhaltung zu Buche schlagen, erscheinen auf der Habenseite immer weniger Einnahmen aus Beerdigungen. 2013 waren es gerade noch 270. Mehr als die Hälfte der Toten kommen in einer Urne platzsparend kostengünstig und anonym ins Grab. Veränderte Bräuche und sinkende Sterbezahlen beklagt auch ein Aushang am Eingang des Parks. Er kündigt die Stilllegung weiterer Flächen an. „Von wegen gestorben wird immer und alles ist so sicher“, sagt Katrin Manke. Nur ein Drittel des gesamten Geländes wird überhaupt noch aktiv genutzt. Die Überhangflächen wachsen und wachsen. Ihrem Friedhof gehen die Toten aus.

"Mein Friedhof ist mein Zuhause!"

Fragen nach ihrem Wohnsitz beantwortet Katrin Manke jedes Mal mit der verblüffenden Auskunft: „Mein Friedhof ist mein Zuhause!“ Mit dieser Bekundung kommt sie Kommentaren von Leuten zuvor, denen es schon bei dem Gedanken graust, auf einem Friedhof wohnen zu müssen. Katrin Manke dagegen fürchtet sich nicht. Nicht nur, dass sie all ihre Werktage auf dem Kirchhof verbringt. Als „Friedhofsverwalterin“, wie ihre Berufsbezeichnung lautet, hat sie auch Anspruch auf eine „günstige Dienstwohnung“ im zweigeschossigen Backsteinbau vorne am Eingang A. „Wie im Schloss Sanssouci“ (was ja „ohne Sorge“ bedeutet) sei sie sich vorgekommen, als sie 1985 zusammen mit ihrem Freund und heutigen Ehemann dort einzog. Da war sie im zweiten Jahr Friedhofshilfsgärtnerin. Wohnte mit ihren 22 noch bei der Mutter, das war so üblich wegen der allgemeinen Wohnungsnot. Sie sah einen Glücksfall in dem Angebot. Gedanken darüber, ob sie nicht viel zu jung für die letzten Dinge sei, machte sie sich nicht. Seitdem hat sie nie eine andere Wohnung gehabt. Und abends im Dunkeln? Sie muss lachen: „Nee, an Geister glaube ich nicht. Die Toten tun mir doch nichts. Angst muss ich höchstens vor den Lebenden haben.“

Was am Ende des Lebens übrig bleibt, ist ein kleines Stück Rasen

Kann schon sein, dass sie sich für etwaige Gespräche über ihr Zuhause ein paar Standardsätze zurechtgelegt hat. Gewiss ist aber: Da wo keiner sonst leben will, hat Katrin Manke ihre Heimat gefunden. Dort wo ihr Haus steht, mitten auf einem der größten Friedhöfe Berlins. Der Tod ist kein Tabuthema für sie. Das Sterben gehört für sie „ganz einfach zum Leben dazu“. So viel vehement vorgetragene Unerschrockenheit muss einen Grund haben. Für Katrin Manke liegt er in der freien Natur. „Mein Draußen“, betont sie und das ist mehr als die bloße Schwärmerei eines Naturkindes.

Es ist das Bekenntnis zu ihrer Rolle, die verlangt, Tod und Leben miteinander zu versöhnen. Die Friedhöfe sterben, aber gleichzeitig ersteht ein innerstädtischer Naturraum von ungeahnter Vielfalt. Den zu bewahren ist ihre Art, einen Gottesdienst für die die Toten zu verrichten. Darüber ist Katrin Manke zu einer Freizeitornithologin geworden, die den seltenen Grünspecht an seinem lachenden Ruf erkennen kann. Im Frühjahr wird der schwarz-gelbe Pirol hier haltmachen, der Zeisig und die Grasmücke. Rotkehlchen werden brüten, Nachtigall und die Braunelle. Vier Arten Fledermäuse, seltene Farne, Moose und Gräser geben ihrer Arbeit einen ganz neuen Sinn.

Jeden Morgen ein Inspektionsgang

„Es war schwer, das aufzugeben“, als sie 2001 die Leitung von Nordend übernahm. Seither sitzt sie hauptsächlich drinnen am Schreibtisch, im Schrank hinter ihr stehen die Urnen wie bei anderen Menschen die Leitzordner und warten auf den Beerdigungstag. Mankes auffallend tiefblaue Augen haben aber den weiten Blick eines Menschen behalten, der gewöhnt ist, viel im Freien zu sein.

Jeden Morgen steigt sie vor sieben die 22 glänzenden Holzstufen von ihrer Wohnung im ersten Stock hinab ins Büro, lässt den ganzen leidigen Papierkram erst mal links liegen und macht sich zu ihrem Inspektionsgang auf. Zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Schließt als Erstes das Haupttor an der Dietzgenstraße auf. Wählt dann, auch wenn sie wenig Zeit hat, den Weg über die Hauptallee, weil sie genießt, dass für sie die neugotische Feierhalle von Weitem so aussieht wie ein „Märchenschloss“. Das ist das Herz des Friedhofs. Jahre musste Katrin Manke für die Instandhaltung der Kapelle kämpfen, besonders für eine Zentralheizung. Sie hat selbst oft genug mit klammen Fingern den Kohleofen eingeheizt, wenn sie im Winter zum Kapellendienst eingeteilt war. Die ohnehin fröstelnden Besucher froren bei der Trauerfeier dennoch in dem alten Gemäuer.

Gegnerin der anonymen Gräberfelder

Was am Ende des Lebens übrig bleibt, ist ein kleines Stück Rasen – und vielleicht keiner, der dich dort besucht. Auch Katrin Manke bleibt nur kurz stehen, um zu erklären, was es mit der Wiese vor ihr auf sich hat. Sie ist erklärte Gegnerin der anonymen Gräberfelder, auf denen sich zu ihrem Leidwesen immer mehr Menschen in einer Urne beerdigen lassen. Früher waren es die Armen, die ohne Feier unter die Erde gebracht wurden. Heute „wollen die Menschen ihren Angehörigen keine Mühe machen“, und ziehen es vor, schnell vergessen zu werden. Wie oft habe sie schon erlebt, sagt Manke, „dass die Hinterbliebenen es später bereut haben, dass sie nun keinen Ort mehr hatten, um ihrer Toten zu gedenken“. Unweit liegt der neu angelegte Urnenhain. Als „naturbelassen-immergrün-friedlich“ preist ein Prospekt die „Bestattung unter Bäumen“. Bizarre Stelen mit schwarzen Namenstafeln sind Bruchstücke von Grabruinen aus dem alten Ostteil. Die Gestaltung des Hains war Mankes Idee, sie ist eine Antwort auf den neuen Brauch der Baumbestattung „und kommt sehr gut bei den Hinterbliebenen an“.

Katrin Mankes Lebensweg ist vielleicht typisch ostdeutsch, aber gleichzeitig völlig einmalig. Es ist die Geschichte einer Frau, die sich zu den Toten zurückzog, nur um ausgerechnet dort das Leben für sich zu entdecken.

Sie fand ihren Weg in die Freiheit. "Es war eine Flucht nach innen"

Wie war der Anfang? Noch sind es sieben Jahre bis zum Mauerfall, 1982 herrscht im Osten bleierne Zeit. Nichts geht mehr. Auch für Katrin Manke nicht. Trotz Baufacharbeiter mit Abitur bewarb sie sich gar nicht erst um einen Studienplatz. Noch schlimmer war nur die Vorstellung, in einem „volkseigenen Betrieb“ eingesperrt zu sein und dort die Jugend zu verplempern. Wo sollte sie hin? Ausreise in den Westen war kein Thema. In der Zeitung las sie die bescheidene Stellenannonce, das war die Rettung. Für 470 Ostmark monatlich fing sie also im Friedhof Nordend als Gärtnerin an. Schwere körperliche Arbeit, ein lausiger Lohn, sogar nach dem Maßstab der DDR.

Im „Arbeiter- und Bauernstaat“ keinen Job zu finden war fast nicht möglich. Wer auf dem Friedhof landete wie sie, galt als Ausschuss, arbeitsunfähig, ausreisewillig oder Alkoholiker, das wusste damals jeder. Auch ihre Mutter. Die schämte sich für die Tochter. „Das hat manchmal ziemlich wehgetan.“ Aber als Rebellin verstand sich Katrin Manke nicht. Sie leistete auf ostspezifische Weise Widerstand und klinkte sich aus.

Ihr immergleicher Traum, einmal über die Mauer zu fliegen, blieb ein Traum. Trotzdem fand sie ihren Weg in die Freiheit. „Es war eine Flucht nach innen“, sagt sie. Wenn „Frieden“ ein Platz ist, wo man hingehört, dann fand sie im Friedhof, was sie so dringend suchte, einen Rückzugsraum. Tote reden nicht.

Zuerst war die neue Zeit zu hören

Man braucht sie auch gar nicht erst zu fragen, wo sie an dem Tag war, als die Mauer fiel. „Na, hier natürlich“, sagt Katrin Manke und lacht. Über sich selbst und ihre Naivität. Sie hat damals allen Ernstes geglaubt, nur Ausreisewillige dürften gehen, und wie gesagt, ausreisen wollte sie ja nicht. Am Abend des 9. November 1989 ging sie also wie gewohnt ziemlich früh zu Bett. Zwei Tage später haben sie und ihr Mann sich dann doch noch zur Bornholmer aufgemacht, um zu Fuß die Grenze zu überqueren und endlich die andere Seite der Mauer mit eigenen Augen zu sehen.

Doch erst mal machte sie weiter wie zuvor. Bestellte den Gottesacker. Säte Gras, jätete Unkraut, beschnitt Sträucher. Tröstete Hinterbliebene und hütete das Andenken der Toten. Legte Gräber an, häufiger noch ebnete sie welche ein. Wiegte sich in der Illusion, die Wendezeit habe sie hinter den Friedhofsmauern vergessen. Aber schon bald war ihr grünes Eiland Mittelpunkt neuer Geschäftigkeit.

Zuerst war die neue Zeit zu hören. „Die heutige B96, die einzige Ausfallstraße nach Norden, war früher schon furchtbar.“ Jetzt ist es zehnmal schlimmer, eine endlose Blechlawine von 15 000 Fahrzeugen pro Tag. Tagsüber können sie in der Verwaltung nicht mal die Fenster öffnen. Der anschwellende Verkehr war allerdings nur der Vorbote von Problemen, von denen sich eine ostdeutsche Angestellte der evangelischen Kirche nicht einmal hätte vorstellen können, dass sie existieren. Sie alle lassen sich unter einer großen Überschrift zusammenfassen: Es geht immer nur ums Geld.

Der Tod ist ewig, doch Gedenken währt kurz

Waren unter dem Druck des SED-Regimes Kirche, Gemeinde und Friedhof eine verschworene Gemeinschaft gewesen, konnte man nun dabei zusehen, wie diese zerfiel. Als Erste witterten die Westgemeinden mögliche Einnahmen und beanspruchten das Gelände von „Himmelfahrt“ und „Frieden“ zurück. Dann stritt der Friedhof Nordend mit der Berliner Stadtreinigung vor Gericht um 100 000 Mark Gebühr. Ein Prozess brachte schließlich eine Ermäßigung von 83 Prozent.

Gleich als sie anfing, hat Katrin Manke die Lektion gelernt, dass der Tod zwar ewig ist, die Halbwertszeit menschlichen Gedenkens dagegen äußerst kurz. Geschichte geht immer weiter und macht auch vor geweihten Orten nicht halt. 400 000 Menschen, so viele wie die Bewohner einer ganzen Stadt, wurden seit 1900 in der Erde von Nordend zur Ruhe gebettet. Wären da nicht die Bäume, man wüsste von ihnen nichts mehr. Das Geheimnis des Waldes ist die Zeit.

Für Katrin Manke wird sich der Kreislauf schließen. Mit 21 fing sie auf dem Friedhof an. „Wenn es nicht ganz anders kommt, als gedacht“, wird sie eines Tages dort beerdigt werden, wo sie so gern lebt.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

Ina Weisse

Zur Startseite