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Berliner Schaubühne: Ganz groß und selten klein

Man muss nur die Namen der Regisseure Revue passieren lassen, schon öffnet sich ein gewaltiges Panorama, eine Weltbühne: Peter Stein, Klaus-Michael Grüber, Luc Bondy, Robert Wilson, Andrea Breth. Sie haben in den siebziger, achtziger und auch noch in den neunziger Jahren die Schaubühne geprägt – mit einem famosen Ensemble.

Man muss nur die Namen der Regisseure Revue passieren lassen, schon öffnet sich ein gewaltiges Panorama, eine Weltbühne: Peter Stein, Klaus-Michael Grüber, Luc Bondy, Robert Wilson, Andrea Breth. Sie haben in den siebziger, achtziger und auch noch in den neunziger Jahren die Schaubühne geprägt – mit einem famosen Ensemble. Edith Clever, Jutta Lampe, Corinna Kirchhoff, Bruno Ganz, Otto Sander, Peter Fitz, Ulrich Matthes: Die Theatergeschichte hat hier nicht gekleckert. Die Anfänge der Schaubühne lagen am Halleschen Ufer in Berlin-Kreuzberg. Schnell wuchsen die Visionen, die Ansprüche. 1980 kam der Umzug zum Lehniner Platz nach Charlottenburg – und 1999 ein weiterer radikaler Neuanfang, als das junge Team um Thomas Ostermeier und Sasha Waltz das Haus übernahm. Jürgen Schitthelm hat als Direktor all das miterlebt, mitgestaltet, durchlitten. Zum Jubiläum hat Peter von Becker mit ihm gesprochen.

Herr Schitthelm, Sie haben noch als Student mit Freunden 1962 die Schaubühne gegründet – acht Jahre bereits vor der berühmten Stein-Zeit. Aber das war gar nicht Ihr erstes Theater-Engagement?

Wir hatten in Ost-Berlin gelebt, und ich ging auf die Oberschule in Weißensee, in die Parallelklasse von Thomas Langhoff. Noch als Schüler bin ich da 1955 durch die Vermittlung einer Freundin am Berliner Ensemble in den Proben zu Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ gelandet.

Das war Brechts letzte eigene Inszenierung, ein Jahr vor seinem Tod.

Ja, ich habe ihn noch erlebt. Bei Brecht saßen immer viele Assistenten, Hospitanten und neugierige Fans hinten im Zuschauerraum. Weil das viel spannender war und ich deswegen öfters den Unterricht schwänzte, bin ich dann trotz zweier verständnisvoller Lehrer fast von der Schule geflogen.

Später wurden Sie noch Statist am BE?

Nach meinem Abitur 1957 wollte ich zunächst an der Theaterhochschule in Leipzig studieren und hatte dort mit Vermittlung von Brechts Frau Helene Weigel schon die Aufnahmeprüfung gemacht, als meine Schule in Berlin Einspruch erhob. Es hieß: Wir bestimmen, wer von den Abiturienten studiert! Mir wurde kein Studium erlaubt, weil mein Vater im Westteil bei der Dresdner Bank arbeitete, die sich nach dem Viermächteabkommen noch Bank für Handel und Industrie nannte. Mein Verweis auf die Empfehlung von Helene Weigel hat meinen Direktor, einen treuen Parteigenossen, so etwas von überhaupt nicht interessiert. Er sagte, weil ich jüngeren Schülern manchmal Nachhilfe gab, „Schitthelm, Sie haben doch pädagogische Fähigkeiten“, womit er nicht ganz unrecht hatte. Also: „Wollen Sie nicht auf die Offiziersschule der Nationalen Volksarmee!?“

Auch eine Alternative.

Eine kuriose. Die andere war Theaterwissenschaft an der Freien Universität in West-Berlin. Man konnte sich ja damals noch zwischen den Sektoren der Alliierten bewegen. Aber dafür musste ich erst mal ein Jahr lang das West-Abitur nachmachen. Ich wohnte noch im Osten, und wo landete man hier als junger DDR-Bürger? Auf der Friedrich-Engels-Schule in Reinickendorf! Danach zog ich bei meinen Eltern aus, verdiente meinen Lebensunterhalt als Statist am BE, bekam mit meiner Freundin, deren Schwester mit dem wunderbaren Regisseur Benno Besson verheiratet war, durch Beziehungsglück eine eigene Wohnung in der Bötzowstraße in Friedrichshain und studierte nun im Westen an der FU. Mehr Spaß machte mir allerdings das von Dieter Sturm geleitete Studententheater, mit dem wir auch beim damals sehr renommierten Internationalen Studententheaterfestival in Erlangen Erfolg hatten, wo 1960 zum Beispiel Günter Grass auf uns aufmerksam wurde.

Dieter Sturm, später der große Dramaturg von Peter Stein und neben Ivan Nagel der brillanteste Intellektuelle des deutschsprachigen Theaters. Im Jahr aber vor der Schaubühnen-Gründung wurde die Mauer gebaut.

Im August 1961 war ich in den Sommerferien mit meinen Eltern und Geschwistern im Erzgebirge, da wurden wir trotz Vorwarnungen vom Mauerbau überrascht. In Berlin suchte ich dann eine Festanstellung beim BE, und die Weigel empfahl mir ein Gespräch mit dem Verwaltungsdirektor, dem Genossen Giersch. Der meinte in seinem breiten Sächsisch: „Sie woll'n Ihr Studium an der Freien Universidäd dadsächlich aufgähm?“ Das empfand ich als Wink, und so bin ich am 13. November 1961, genau drei Monate nach dem Mauerbau, über den Bahnhof Friedrichstraße ausgereist. Mit einem Schweizer Pass.

Woher hatten Sie den?

Von Kommilitonen. Mit West-Beziehungen und ausländischen Pässen ließ sich in den ersten Monaten einiges machen, weil die DDR-Grenzer noch wenig Erfahrungen mit Ausländern hatten. Ich war mit Westgeld ausgestattet, trug West-Kleidung, das erschien mir nicht als Problem. Schlimmer war, dass mein Vater im Osten jetzt arbeitslos war. Deshalb haben wir bald darauf auch die Ausreise meiner Familie mit westlichen Pässen auf einer Fähre nach Dänemark organisiert. Es waren Originalpässe, eine Grafikerin, die später bei der Schaubühne die Plakate machte, wechselte nur die Fotos aus und zog die Stempel nach, das sah besser aus als vorher!

Ihr nächstes Abenteuer war dann die Theatergründung.

Ende 1961 hatte uns der Vater unserer Mitstreiterin Leni Langenscheidt, ein Bielefelder Bauunternehmer, 10 000 Mark als zinsloses Darlehen gegeben, damit gründeten wir 1962 die Schaubühne. Verantwortliche Gesellschafter wurden neben Leni Langenscheidt und der Kostümbildnerin Waltraut Mau der Bühnenbildner Klaus Weiffenbach und ich, Dramaturg war Dieter Sturm. Zufällig stand am kriegszerstörten Halleschen Ufer in einer Brache ein Neubau der Arbeiterwohlfahrt leer, die dort einen Veranstaltungssaal hatte, aber kaum Besucher, weil ihre Mitglieder zumeist Ost-Berliner und durch den Mauerbau abgeschnitten waren. Insofern profitierten wir von der Mauer, außerdem lagen ja nun die meisten Theater der Stadt im Osten.

Für die West-Berliner blieben fast nur die Staatlichen Schauspielbühnen, das Schillertheater. Zunächst existierte auch noch nicht Erwin Piscators neue Freie Volksbühne in der Schaperstraße. Die Schaubühne gab sich das Attribut - und heißt so im Untertitel bis heute: „zeitgenössisches Theater“. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, Theater ist doch immer hier und jetzt.

Dennoch hatten die Staatlichen Bühnen ein ganz anderes Programm. Wir starteten mit der deutschen Erstaufführung eins brasilianischen Volksstücks von Ariano Suassuna, „Das Testament des Hundes“, inszeniert von Konrad Swinarski, der zwei Jahre darauf am Schillertheater die berühmte Uraufführung von Peter Weiss’ „Marat/Sade“ machte. Wir spielten nach dem Mauerbau als Einzige im Westteil Brecht, wir zeigten in Berlin nach 1945 erstmals Ödön von Horváth und Marieluise Fleißer. Oder den sehr erfolgreichen britischen Sozialkritiker Arnold Wesker. Das waren Attraktionen auch für die Charlottenburger oder Zehlendorfer, wir spielten suite, ohne festes Ensemble nur mit Stückverträgen, aber hatten bis zu 540 Zuschauer am Abend. Obwohl Kreuzberg damals wegen der Nähe zur Mauer für viele unserer Besucher wie kurz vor Warschau wirkte. Doch es gab in West-Berlin auch noch 13 Tages- und Abendzeitungen mit ihren aktuellen Nachtkritiken, es gab Friedrich Lufts „Stimme der Kritik“ als Radiokultsendung – da hatten wir selbst als junges Privattheater mit geringen Subventionen starke Resonanz. Nur aus unserer Kreuzberger Nachbarschaft kam damals noch kaum jemand. Die paar Theatergänger von dort fuhren samstags lieber fein gemacht zum Boulevard an den Kurfürstendamm.

Hatten Sie Vorbilder?

Zuerst natürlich das Theater Brechts. Aber auch Giorgio Strehlers Mailänder Piccolo Teatro, das wir von ersten Gastspielen kannten, das Théâtre National Populaire von Jean Vilar und später Roger Planchon in Villeurbanne sowie der Theatre Workshop von Joan Littlewood in East London.

Joan Littlewood hatte die englische Erstaufführung von Brechts „Mutter Courage“ inszeniert und die spektakuläre Anti-Vietnamkriegsrevue „O What a Lovely War“. Also könnte man Ihr Grundkonzept eine Mischung nennen aus politisch aufklärerischem und zugleich poetisch ambitioniertem Theater?

Das trifft es. Wir standen politisch links, aber uns interessierten nie platte Agitprop-Stücke. Das war auch vor dem Engagement von Peter Stein schon so.

Peter Stein holten Sie 1970 ans Hallesche Ufer. Dort beginnt Steins Schaubühnenkarriere immer erst mit der Inszenierung von Brecht/Gorkis „Mutter“, verkörpert von der großen alten Therese Giehse.

Es gab bei uns aber schon ein Jahr zuvor eine Stein-Aufführung, die von der gesamten Theatergeschichtsschreibung vergessen und verschwiegen wird. Wie bekannt war Stein 1968 mit Peter Weiss' „Vietnam Diskurs“ aus den Münchner Kammerspielen geflogen, weil er am Ende im Publikum für den Vietcong sammeln ließ. Den „Vietnam Diskurs“ hat er dann bei uns im Januar 1969 wiederholt, und da durfte auch für den Vietcong gesammelt werden. Aber selbst das 68er-Publikum blieb aus, obwohl Wolfgang Neuss, als Schauspieler und Kabarettist eine Berliner Ikone, mit dabei war! Stein hatte bei uns aus ensemblepolitischen Gründen auf eine Kollektivregie gesetzt, was nur mit einem eingespielten Ensemble gegangen wäre. Wir haben die Aufführung nach wenigen Vorstellungen abgesetzt, auch auf Wunsch von Neuss, der die Höchstgage bekam und auf die Hälfte verzichtete.

Das ist heute tatsächlich vergessen, dieser frühe Flop findet sich auch mit keinem Wort in der 550 Seiten dicken, quasi offiziösen Stein-Biografie seiner früheren Mitarbeiterin Roswitha Schieb. Wenig später kam dann sein legendärer „Torquato Tasso“ in Bremen heraus, da war Stein schon der junge Regiestar: mit seinen Schauspielern Bruno Ganz, Edith Clever, Jutta Lampe, Otto Sander und anderen. Sie haben ihn und seine Truppe ab 1970 fest engagiert, worauf das kleine Haus an der Peripherie zum Theatermekka wurde. Bald pilgerte das Publikum aus der ganzen Welt nach Kreuzberg.

Wir waren zum damaligen Kultursenator Werner Stein gegangen, der mit Peter Stein nicht verwandt war, um dieses Experiment zunächst auf der Basis von Zweijahresverträgen zu ermöglichen. Dafür gab es für zwei Spielzeiten eine Verdreifachung der Subvention auf 1,8 Millionen Mark. Während dieser zwei Jahre haben alle künstlerischen Mitarbeiter auf Urlaube für Film und Fernsehen verzichtet, die Höchstgage war 3500 Mark im Monat, auch für Stein und alle anderen Regisseure. Später sind die Gagen etwas gestiegen, aber auch Peter Stein hat bis zu seinem Ausscheiden als künstlerischer Leiter 1985 nie ein höheres Salär bekommen als seine Schauspieler. Bruno Ganz oder Jutta Lampe hätten genau wie er schon 1970 viel mehr verdienen können.

Sie waren anfangs ein Mitbestimmungstheater und zugleich eine Art Privatuniversität. Die Schauspieler bekamen Kurse in Marxismus-Leninismus, aber es gab auch die akribische ästhetisch-theatergeschichtliche Vorbereitung aller Stücke, vor allem durch den Dramaturgen Dieter Sturm.

Was Sturm in freier druckreifer Rede an theoretischer Gelehrsamkeit und zugleich höchster sinnlicher Anschauung darlegen konnte, war unschlagbar, auch als Produktionsdramaturg in seinen Analysen nach einer Probe. Sturms private Bibliothek, die kürzlich an die Landesbibliothek übergeben wurde, umfasst übrigens 70 000 Bände, es drohte schon die Altbauwohnung unter dem Gewicht einzustürzen.

Viele interne Debatten und auch Sturms Vorträge wurden auf Tonbänder aufgenommen und dann abgeschrieben. Es waren die Jahre von Steins „Prinz von Homburg“, „Peer Gynt“ und „Sommergäste“ bis zur „Orestie“ oder bereits im Mendelsohn-Bau am Kurfürstendamm „Drei Schwestern“; es waren die Anfänge mit Claus Peymann, dann die glanzvollen Inszenierungen von Klaus Michael Grüber oder Robert Wilson, die Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen und Dichter Botho Strauß. Besteht die Hoffnung, dass diese einzigartigen Dokumente zumindest in Ausschnitten irgendwann veröffentlicht werden?

Wir erleben immer wieder Anfragen von Theaterwissenschaftlern und geben punktuell auch Einsicht in die Protokolle. Doch das waren auch ganz intime, rückhaltlos offene Diskussionen über Besetzungen, über einzelne Schauspieler oder Regisseure, die Persönlichkeitsrechte stehen da einer Veröffentlichung entgegen. Ein Otto Sander hätte nichts dagegen, andere schon. Man müsste stark auswählen, Namen schwärzen, alle fragen – und allein die 15 Jahre bis zu Steins Ausscheiden umfassen über ein Dutzend pralle Leitzordner, tausende Seiten mit engstem Zeilenabstand und noch nicht digital erfasst. Ich werde mich aber gleich nach meinem Ausscheiden aus der Geschäftsführung um das Archiv der Schaubühne kümmern und bis Dezember alle Materialien der Jahre 1962 bis 2000, also bis zum Beginn der künstlerischen Leitung von Thomas Ostermeier, an die Akademie der Künste geben.

Wie kam es zum Weggang von Kreuzberg an den Kurfürstendamm?

Wir sind 1981 umgezogen, aber die Weichen wurden viel früher gestellt. 1974 hatten wir die Uraufführung von Peter Handkes „Die Unvernünftigen sterben aus“, hatten Heiner Müllers „Lohndrücker“, hatten das große Antiken-Doppelprojekt von Peter Stein und Klaus Michael Grüber in einer Messehalle und am Ende noch die „Sommergäste“, die danach verfilmt wurden. Das waren Riesenerfolge, auch beim Publikum, aber schon bei den Proben zu den „Sommergästen“ waren wir eigentlich pleite, wir hatten eine Million Schulden. Trotz inzwischen rund sechs Millionen Subvention. Also mussten wir zum Kultursenator Stein marschieren – und statt nur kleinlaut die eine Million zu erbitten, um das Theater vor dem Konkurs zu bewahren, teilten wir mit: Die Schaubühne braucht, um längerfristig in Berlin zu arbeiten, ein neues Haus!

Ein Fall von Vorwärtsverteidigung.

Absolut. Denn tatsächlich platzte das Haus am Halleschen Ufer aus allen Nähten, es war ja gar nicht als Theater gebaut. Es gab insgesamt zwei Garderoben und nur je eine Dusche für Männer und Frauen. Schon das war nach jeder Vorstellung für die Schauspieler eine Zumutung.

Sexy, aber arm.

So sah das auch der Kultursenator und überwies uns zur Rettung sofort einen Nachschuss. Und am liebsten wären wir auch in Kreuzberg geblieben. Zuerst dachten wir an einen äußerlich schlichten neuen Zweckbau am Anhalter Bahnhof, dann an die Hallen des Blumengroßmarkts, in denen jetzt gegenüber dem Jüdischen Museum Daniel Libeskind einen Erweiterungsbau installiert. Dann kam die Idee Flughafen Tempelhof. Aber die Amerikaner sagten, wir müssten notfalls in der Lage sein, in zwei Tagen wieder alles zu räumen. Weil die annahmen, dass die Russen zuerst Tegel angreifen, und dann wollten sie über Tempelhof noch ausfliegen! Die nächste Idee war der damals noch kriegsbeschädigte Gropiusbau.

Als Theater?

Das wäre schon vorstellbar gewesen, doch als wir die prachtvolle Innenarchitektur sahen, dachten wir, das kann man nicht immer erst abends für ein paar Stunden öffnen und tagsüber leer stehen lassen. Uns zog es auch nicht an den Kurfürstendamm – bis mir der befreundete Architekt Jürgen Sawade irgendwann das ehemalige Kino im Mendelsohn-Bau am Lehniner Platz zeigte, das innen entkernt war, um es in ein Party- und Vergnügungscenter umzubauen. Wir standen in dem einst prachtvollen Kino, das ich noch gekannt hatte, mit den Füßen im märkischen Sand. Sawade aber erkannte sofort die Chancen für ein innen auf ganz neue Weise variables Theater. Daraufhin hat der Senat zugegriffen und 84,5 Millionen Mark in den Umbau investiert.

Eine noch immer unerklärliche oder unerklärte Geschichte ist Steins abrupter Abgang 1985, den er während einer Rundfunk-Diskussion mit Berliner Oberschülern verkündete.

Ich habe dafür bis heute keine Erklärung, das traf uns alle völlig unvorbereitet. Für die Schauspieler war das ein Schock. Ich hatte die Live-Sendung im Rias gar nicht gehört, und als ich von dpa angerufen und gefragt wurde, was sagen Sie zum Weggang von Peter Stein, dachte ich, der Mann ist verrückt.

Der Anrufer.

Der Anrufer. Dann habe ich mir ein Band von der Sendung besorgt und war danach optimistisch, dass sich die Sache noch reparieren ließe.

Obwohl Stein klipp und klar erklärt hatte, er werde Schluss machen?

Stein schien mir zunehmend genervt durch die ziemlich kritischen Fragen der Schüler, in der Art: ob die Schaubühne am Kurfürstendamm nicht eine etwas bürgerliche Hochkulturveranstaltung geworden sei. Ich dachte mir, jeden Moment steht er auf und sagt in seiner typischen Art: „Ihr kleinen Scheißer könnt meinen, was ihr wollt, ich habe das nicht nötig und gehe jetzt!“ Aus der Sendung. Auch hinterher hätte ich noch darauf gewettet, dass Stein, der gerade nicht im Haus war, nach spätestens 48 Stunden kommt und darüber nur lachend sagt: „Die haben mich provoziert. Aber was habe ich da für einen Schwachsinn geredet!“

Stein hatte in der Sendung gesagt, er könne sein Theater nicht mehr nach seinen eigenen Vorstellungen prägen. Hatte da schon insgeheim der später endgültig gescheiterte Plan, den ganzen „Faust“ an der Schaubühne zu machen, eine Rolle gespielt?

Nein, überhaupt nicht! Ich kann Ihnen das versichern, denn Peter Stein und ich sowie vielleicht noch vier oder fünf Schauspieler aus seinem engsten Kreis waren einander so vertraut und haben uns auch so vertraut, dass wir schon den Hauch einer Missstimmung gespürt hätten. Gerade dieses Vertrauen schloss heftige Konflikte nicht aus, aber die konnten immer ganz offen ausgetragen werden.

Dennoch kam es zum Bruch, durch den „Faust“.

Irgendwann einmal beide Teile des „Faust“ zu machen, diese Idee geisterte schon seit Mitte der 70er Jahre in unseren Köpfen. Es war Steins Projekt, das begann sich aber erst 1990, als Stein uns immer noch als Gastregisseur verbunden war, zu konkretisieren. Das lag auch daran, dass Bruno Ganz, der seit 1975 wegen seiner Filmtätigkeit nur noch Gast war, den Faust spielen sollte, aber mit der Rolle jahrelang Probleme hatte. Uns war allerdings klar, dass wir das nicht am Lehniner Platz würden machen können, weil Andrea Breth dann die künstlerische Leitung mit einem erweiterten Ensemble übernehmen würde.

Und wie ging das weiter?

Bruno Ganz war inzwischen bereit, den Faust zu spielen. Es gab eine Ensemble-Versammlung, bei der Peter Stein auf Fragen der Schauspieler nach der übrigen Besetzung auswich, so weit sei er noch nicht. Bei einer nächsten Versammlung kamen dann wieder diese Fragen, worauf Stein sagte, er spüre immer nur Skepsis und wenn wir uns früher auch so verhalten hätten, dann hätten wir nie das „Antikenprojekt“ von 1974 oder die vollständige „Orestie“ von 1980 geschafft. Worauf dann Peter Simonischek aufstand: „Peter, da gibt es einen großen Unterschied. Du bist heute nicht mehr künstlerischer Leiter, sondern Gastregisseur. Früher wusste jeder Schauspieler, wenn er diesmal nur klein-klein spielt, dann kann er bei dir in der nächsten Inszenierung auch wieder eine zentrale Rolle spielen.“ Diese Erwartung hatten die Schauspieler auch diesmal. Im „Faust“ gibt’s außer einer Handvoll Hauptrollen viele rumwuselnde Kurzauftritte, aber niemand hätte nun gewusst, was nach einem Jahr Vorbereitung der beiden „Faust“-Teile, die dann auch erst mal mindestens ein Jahr lang gespielt werden müssten, gekommen wäre. Danach nämlich wäre Stein, das hatte er dem Ensemble bereits gesagt, als Gastregisseur an der Schaubühne drei Jahre lang wegen anderer Verpflichtungen gar nicht zur Verfügung gestanden.

Peter Stein hat den ganzen „Faust“ dann in einer Art 22-stündiger Welturaufführung im Sommer 2000 auf der Expo in Hannover und danach auch bei Gastspielen unter anderem in der Arena in Berlin-Treptow gezeigt. Davor gab es jedoch noch weitere Versuche an der Schaubühne, die zum völligen Bruch mit seinem ursprünglichen Theater führten. Stein hat Sie, Herr Schitthelm, und beispielsweise Andrea Breth, die von 1992 bis 1997 künstlerische Leiterin der Schaubühne war, dafür mehrfach öffentlich beschimpft.

Darauf habe ich selber bislang noch nie öffentlich erwidert. Als Theaterdirektor weiß ich, wie schnell Künstler enttäuscht und gekränkt reagieren und Geschichten in die Welt setzen.

Sie meinen: Verschwörungstheorien. Wollen Sie nicht jetzt, bei Ihrem eigenen Abschied von der Schaubühne, das einmal aus Ihrer Sicht schildern?

Ich versuche jetzt einmal die Kurzversion einer langen Story. Wir haben ja das Projekt „Faust“ und Peter Steins Wunsch und künstlerische Vision immer ernst genommen, und ich habe selber vieles versucht, was nicht an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Beispielsweise hatte sich Daimler oder damals noch Mercedes Benz als Sponsor zurückgezogen, weil ihnen von Teilen der Politik und der Medien vorgeworfen wurde, das Areal auf dem Potsdamer Platz für einen Appel und ein Ei erworben zu haben. Dadurch fehlten uns vier Millionen Mark. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir Verträge mit Peter Stein und anderen gemacht. Das heißt, die schon dadurch notwendige Absage des Projekts hat die Schaubühne eine halbe Million Mark Ausfallhonorare und vergebliche Dispositionen gekostet.

Dafür standen Sie als persönlich haftender Gesellschafter und kaufmännischer Direktor in der Verantwortung.

Natürlich. Ich habe auch weitere Anstrengungen unternommen, das Projekt in den Messehallen zu produzieren und hätte größte Risiken hingenommen, wenn das Ensemble das Projekt unter allen Umständen gewollt hätte. Aber die Mitarbeiter sagten, das wäre unverantwortlich. Stein hatte auch vorgeschlagen, es nun doch im Mendelsohn-Bau zu machen. Aber das hätte das ganze Haus auf weit über ein Jahr völlig in Beschlag genommen. Wir hätten nur noch an spielfreien Tagen kleinste Projekte und szenische Lesungen in den „Faust“-Kulissen machen können, und Andrea Breth etwa hätte sehen müssen, wo und wie sie außer Haus mal eine eigene Aufführung hätte inszenieren können. So wurde Andrea Breth für Stein die Mitschuldige, obwohl sie sich jederzeit absolut loyal verhalten hat. Gegen Ende der 90er Jahre hatte Peter Stein dann als Sponsor unter anderem die Deutsche Bank und Daimler Chrysler gewonnen und Interesse an einer Koproduktion bekundet. Da sagte ich ihm, wir können es versuchen, aber nicht bei uns im Mendelsohn-Bau. Stein fragte, warum?, und ich antwortete ihm: Es wird im Herbst 1999 eine neue künstlerische Leitung an der Schaubühne geben. Nur die Namen Thomas Ostermeier und Sasha Waltz konnte ich ihm damals noch nicht sagen. Nach dem Ende von Andrea Breths Direktion 1997 herrschte Stagnation, und ich hatte lange jemanden gesucht, der fähig und bereit war, nach der Zusammenarbeit mit Luc Bondy, Jürgen Gosch und Breth in die noch immer unübersehbar großen Fußstapfen von Stein zu treten.

Wie hat Stein reagiert?

Verblüfft, mit der Frage, ob man die neue Leitung nicht erst zwei Jahre später anfangen lassen könne. Da daran nicht zu denken war, bot ich ihm nochmals meine guten Beziehungen zum Chef der Messehallen an. So entstand der Plan, dort im Sommer des Jahres 2000 die „Faust“-Premiere zu haben, für die Proben technisches Personal der Schaubühne einzusetzen und für Bühnenbild, Kostüme, Requisiten usw. unsere Kräfte zu nützen. Wir hatten dafür schon zu bestimmten Zeiten die Werkstätten und eine ausgetüftelte Logistik bereitgestellt, das war alles haargenau kalkuliert – als ich von Peter Stein fast nebenbei erfuhr, dass der ganze Probenbetrieb bei der koproduzierenden Expo in Hannover stattfinden sollte. Da war ich wie vom Donner gerührt. Ich hätte ja nicht einen Teil der Schaubühnenmitarbeiter ein halbes Jahr oder länger nach Hannover verfrachten können, ganz abgesehen von den Hotelkosten und Spesen. Außerdem wurde der Terminplan durch die Expo verschoben, da war für uns alles geplatzt. Stein kommunizierte das nach außen als Absage der Schaubühne, die es nie war.

Es bedeutete das Ende einer jahrzehntelangen Freundschaft und eines Stücks gemeinsamer Theatergeschichte?

Wir sind seitdem, seit gut 13 Jahren, nicht mehr in Kontakt. Ich habe von Peter viel Negatives über die Schaubühne und mich aus den Medien erfahren. Einmal sind wir uns in Mainz noch auf einer Veranstaltung von ZDF/3sat nach Jahren zufällig begegnet, er stand neben meinem alten Freund Jürgen Flimm, und ich wollte auch ihm die Hand geben, aber er hat sich nur abgewendet. Flimm meinte trocken: „Der Peter kann manchmal ein Arschloch sein.“

Thomas Ostermeier wollte Stein immer gerne mal kennenlernen.

Ja, er hat mehrfach versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber nie eine Antwort bekommen. Als Ostermeier einmal in ein Lokal kam, in dem zufällig auch Stein saß, soll Stein brüsk gesagt haben: „Wer ist das? Kenne ich nicht.“

Sie haben meines Wissens nie selber inszeniert an der Schaubühne und wohl auch nicht gespielt, obwohl sie früh schon als Statist am BE aufgetreten waren. Wollten Sie immer im Hintergrund der Ermöglicher der Kunst und nie selber ein Künstler sein?

1969 hatte ich mal die Co-Regie bei Brechts „Baal“, mich danach aber ganz für die Theaterleitung entschieden. Die Rolle des Ermöglichers ging nicht zusammen mit eigenen Regieambitionen.

Knapp 30 Jahre nach dem Engagement der Stein-Truppe haben Sie noch einmal eine große Zäsur gewagt. Was gab Ihnen die Zuversicht, den gerade 30-jährigen Thomas Ostermeier von der kleinen „Baracke“ am Deutschen Theater an die Schaubühne zu holen und ihn im September 1999 zum neuen künstlerischen Leiter zu machen?

Der Umgang mit den Texten und die Qualität seiner überwiegend mit jungen Schauspielern besetzten Inszenierungen haben mich zu der Überzeugung gebracht, mit Ostermeier einen Neubeginn initiieren zu können.

Nachdem das Schauspiel mit Ostermeiers Erfolgen wie „Nora“ oder „Hedda Gabler“ seine anfänglichen Schwierigkeiten überwunden hatte, gab es eine weitere Zäsur: Sasha Waltz und ihr Tanztheater haben die Schaubühne wieder verlassen. Warum diese Trennung?

Es war Ostermeiers Idee, Sasha Waltz und ihre Tänzer als Teil des Ensembles zu engagieren. Da ein Tanzensemble physisch allenfalls 100 bis 120 Vorstellungen in einer Spielzeit bewältigen kann, musste das Schauspiel 240- bis 260-mal spielen. Dementsprechend wurden die Personal- und Ausstattungskosten vom Tanz mit einem Drittel und vom Schauspiel mit zwei Dritteln in Anspruch genommen. Der bislang in der freien Szene agierende Tanz hatte alsbald mit den Dispositionszwängen des Repertoirebetriebes große Probleme, Sasha Waltz & Guests hatten zuvor kaum mehr als 50 Vorstellungen gespielt. Das führte zu einer permanenten Unzufriedenheit, die schließlich in der Forderung gipfelte, die finanziellen Ressourcen zwischen Tanz und Schauspiel hälftig zu verteilen. Das war nicht zu leisten, und Sasha Waltz sah sich nicht in der Lage, mit den vor Vertragsabschluss diskutierten Bedingungen kreativ umzugehen. Deshalb haben wir auf ihren Wunsch reagiert, lediglich in einer Kooperation ab 2005/06 pro Spielzeit 50 Tanzvorstellungen zu spielen und ansonsten Gastspiele ihrer Produktionen auf eigene Rechnung durchzuführen. Selbst diese Vereinbarung hatte lediglich sechs Monate Bestand. 2006 haben wir Sasha Waltz die Ausstattungen ihrer Inszenierungen als Schenkung übereignet und die Zusammenarbeit beendet.

Einst galt die Schaubühne als Deutschlands oder gar Europas aufregendstes Theater. Spätestens mit dem Ende der Stein-Zeit haben sich die Gewichte verschoben, vor allem nach der Wende gab es die Drift zurück in den Berliner Osten, vor allem Frank Castorfs Volksbühne wurde zum neuen Spannungspol. Heute ist die Schaubühne am Lehniner Platz eine hochgeachtete Institution, und Thomas Ostermeiers Inszenierungen werden auch bei vielen Gastspielen im Ausland gefeiert. Aber hat die Schaubühne noch etwas Unverwechselbares?

Es ist nicht meine Sache, mich zum Unverwechselbaren der Schaubühne zu äußern. Das müssen kritische Beobachter unserer Arbeit beurteilen. Ich sage nur, dass wir das Berliner Repertoiretheater mit dem größten Anteil jugendlicher Besucher sind. Was die Außenwirkung in den 13 Spielzeiten unter der künstlerischen Leitung von Thomas Ostermeier betrifft, sind wir mit seinen und den Inszenierungen anderer Regisseure in aller Welt mit Gastspielen präsent wie kein anderes deutschsprachiges Ensemble. 423 Gastspiele, davon 350 im Ausland mit mehr als 1100 Vorstellungen in 13 Jahren. Das ist zwar nur Statistik, ich empfinde das aber auch als Wertschätzung unserer Arbeit, das macht einen schon stolz.

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