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Berufskrankheit: Warum ein Arzt Deutschland den Rücken kehrte

Sie werden in Deutschland ausgebildet, aber zum Arbeiten gehen sie in die Schweiz: Stress, Formulare und Sparzwang treiben immer mehr Ärzte ins Ausland. Die Geschichte eines Mediziners, der in der Schweiz eine neue Heimat gefunden hat.

Die Sache mit den elf Millimetern geht Hugo Stuhlfelder nicht aus dem Kopf. Eines Tages kam der Steuerprüfer und hatte einen Messschieber dabei. Er wollte die Uhr messen, die Stuhlfelder am Handgelenk trug und als Arbeitsmittel von der Steuer absetzte. Eine solche Uhr, speziell für Ärzte, durfte nicht mehr nur Minutenzeiger, Sekundenzeiger und Stoppfunktion haben. Sie musste, so die neue Anordnung, eine bestimmte Dicke haben. Elf Millimeter, nachzumessen von Hand.

Natürlich war das nur ein winziges Detail, eine dieser Schrulligkeiten des deutschen Steuersystems, kaum der Rede Wert in einer gut gehenden Praxis wie der von Hugo Stuhlfelder in Karlshuld, einem Dorf nahe Ingolstadt in Oberbayern. Aber für Stuhlfelder standen die elf Millimeter für etwas sehr viel Größeres. Sie waren ein greifbarer Beweis für den Schatten der Bürokratie, der sich seit Jahren immer weiter über seine Arbeit schob.

Hugo Stuhlfelder ist keiner von den Ärzten, die auf Kundgebungen mit der Faust auf Rednerpulte hämmern. Er ist 64, er spricht mit gefalteten Händen und legt den Kopf leicht in den Nacken, wenn er nachdenkt. Sein Kopf liegt an diesem Vormittag ziemlich oft im Nacken. „Es ging mir ja nie darum, übermäßig Geld zu verdienen“, sagt er. „Aber diese Schikanen.“ Er zögert und blickt aus den Augenwinkeln durch das Metallgestell seiner Brille. Er will nicht wirken wie einer von denen, die sich wegen jeder Kleinigkeit beschweren. „Bevor man selber vor die Hunde geht, muss man was unternehmen.“ Das sagt er, und das hat er auch getan.

Stuhlfelder sitzt in seinem Sprechzimmer an einem Holztisch und blickt aus dem Fenster. Arzt ist er geblieben, das Zimmer sieht ähnlich aus wie sein altes Sprechzimmer. Aber um ihn herum hat sich alles verändert. Im Tal vor dem Fenster liegt Frutigen, ein Dorf mit dampfenden Schornsteinen in der Nähe von Bern. Der Bauernhof gegenüber verkauft Mutschli, einen Schweizer Bergkäse, die Straßen heißen Guggligässli und Bruchliweg. Er atmet tief ein und sagt: „Jammerschade, was in Deutschland passiert.“

In den 80er Jahren begann es. Die Gesundheitsminister in Bonn erließen fast im Jahrestakt Gesetze, die den Begriff „Kostendämpfung“ teils schon im Titel trugen. Die Krankenkassen teilten den Ärzten strenge Budgets zu, die sie in der Folge immer enger zurrten. Überzog ein Arzt sein Budget, weil er einem Patienten ein teureres Medikament verschreiben wollte, klagten die Kassen auf Regress. Bei den Kongressen, die Stuhlfelder besuchte, tauchten neue Begriffe auf: Kosteneffizienz. Optimierung. Wettbewerb. Betriebswirte bezeichneten die kranken Menschen, die in Stuhlfelders Sprechzimmer kamen, plötzlich als „Wertträger“, messbar in Stückzahlen und abzurechnen wie Schweinehälften in einem Schlachthof. Plötzlich bestimmten Industrienormen die Arbeit des Landarztes.

Kurz vor dem Burnout trifft Hugo Stuhlfelder eine Entscheidung

Jahr für Jahr kamen neue Formulare, neue Vorgaben, irgendwann brauchte er doppelt so viele Computer wie Angestellte. Drei Minuten blieben ihm am Ende mit jedem Patienten, damit das Geld, das ihm die Krankenkasse pro Quartal zahlte, für Praxismiete und Gehälter reichte. Er kam später nach Hause, verdiente weniger. Er schlief schlecht. Es war 2009, das deutsche Gesundheitssystem, das spürte der Mediziner, würde ihn selbst um die Gesundheit bringen. Und so schloss Hugo Stuhlfelder mit 62 Jahren seine Praxis in Karlshuld und zog in die Schweiz. Deutschland hatte einen Arzt weniger. Und damit ein Problem mehr.

In Hamburg hebt Frank Ulrich Montgomery den Telefonhörer ans Ohr und legt los. Es ist sein Lieblingsthema. Er ist Präsident der Bundesärztekammer, wenn die deutschen Ärzte ein Problem haben, ist er nicht nur ihr Sprecher, sondern ihr Lautsprecher. Es gibt vermutlich keinen Arzt, der so viel Zeit an Rednerpulten verbringt wie er.

Oft wirft er bei seinen Auftritten eine Powerpoint-Folie an die Wand, über die er das Wort „Ärzteflucht“ geschrieben hat. Ein grüner Balken zeigt die Zahl der zugewanderten Ärzte, ein roter die der abgewanderten. Bis vor fünf, sechs Jahren waren die Balken Jahr für Jahr etwa gleich lang. Für jeden Arzt, der Deutschland verließ, kam ein neuer aus Rumänien, Griechenland oder Ungarn. Doch dann kippte das Gleichgewicht. Der rote Balken ist nun fast doppelt so lang wie der grüne. Die Abwanderung steigt spürbar, wahrscheinlich nennt sie Montgomery deshalb „Flucht“. Vergangenes Jahr gingen 3400 Ärzte weg. So viele waren es noch nie. Vor allem für ländliche Gebiete ist der wachsende rote Balken eine Katastrophe.

Der rote Balken auf Montgomerys Folie bedeutet auch: Etwas hat sich geändert an der Zufriedenheit deutscher Ärzte. Das Bild vom Arzt hat einen Kratzer.

Wer Arzt wird, muss ein Leben lang zu den Besten gehören. 13 Jahre in der Schule, sechs Jahre an der Uni, fünf Jahre auf dem Weg zum Facharzt. Keine Berufsausbildung dauert länger, für keinen Job braucht man mehr Ausdauer. Daran knüpft sich die Erwartung, später in einem Beruf zu arbeiten, in dem Vollbeschäftigung herrscht und der noch immer einer der bestbezahlten ist. So das Versprechen.

Aber wenn Montgomery Statistiken über die Zufriedenheit von Ärzten zitiert, zeichnet sich ab: Der Spalt zwischen dem Versprechen und dem, was die Realität einlöst, klafft immer weiter auseinander. Ein Deutscher, der vor drei Jahren eine Praxis in Luzern eröffnet hat, sagt: „In den 80ern haben wir alle viel verdient, vielleicht zu viel. Aber heute ist die Bezahlung gemessen an der Verantwortung und der Studiendauer ein Scherz.“

Deutsche Studenten lernen Norwegisch - sie planen schon jetzt die Karriere im Ausland.

Noch immer wächst die Zahl der Medizinstudenten. Aber mit dem Eintritt in den Beruf kommt die Ernüchterung: 24-Stunden-Schichten in der Klinik, Querelen mit den Krankenkassen, ein Dickicht aus Formularen, das doppelt so viel Zeit verschlingt wie die Behandlung von Patienten.

In Berlin bläst der Wind um das Bettenhochhaus der Charité. Johanna Kolbusch öffnet ihr Fahrradschloss und schiebt das Rad in einen Strom von Menschen, die in Richtung Bibliothek gehen. Gerade hat sie eine Vorlesung über den menschlichen Bewegungsapparat gehört, den Rest des Tages muss sie lernen, für eine Klausur in Neurologie und Neuroanatomie. Kolbusch studiert Medizin. Acht Stunden verbringt sie täglich zwischen Hörsaal und Bibliothek, dann holt sie ihre Tochter von der Kita und ihren Sohn von der Musikschule, und wenn die Kinder am Abend im Bett liegen, lernt Kolbusch noch mal zwei Stunden. Die Studentin will Hausärztin werden. Erst in vier Jahren wird sie ihr erstes Gehalt bekommen, schon jetzt hat sie eine 50-Stunden-Woche. Aber wenn sie von ihrem künftigen Beruf spricht, strahlt sie trotzdem.

Johanna Kolbusch steht am Anfang einer Laufbahn, die der von Hugo Stuhlfelder nicht unähnlich ist. Sie sagt: „Ich will Menschen helfen, sie beruhigen. Was kann es Schöneres geben?“

Kolbusch ist 32, bis vor zwei Jahren hat sie als Erzieherin behinderte Kinder betreut. Sie weiß, was es heißt, hart zu arbeiten. Sie kennt auch die Probleme der deutschen Ärzte. Ihr Hausarzt, erzählt sie, arbeitet nach Feierabend und am Wochenende im Bereitschaftsdienst, um keinen Verlust zu machen. Ein anderer schließt am Ende jedes Quartals für zwei Wochen die Praxis. Denn die Kasse zahlt pro Patient und Quartal einen festen Betrag, egal wie oft ein Patient kommt.

Johanna Kolbusch sitzt jetzt in der Mensa, vor sich einen Salatteller, um sich den Lärm von hunderten Studenten. Viele von Kolbuschs Kommilitonen planen schon jetzt eine Karriere im Ausland. Sie belegen Kurse in Norwegisch oder bewerben sich für Praktika in Zürich. „Ich kann’s total verstehen“, sagt Kolbusch. Sie selbst wird in Berlin bleiben, wegen der Familie. Aber sich selbstständig machen? Auf keinen Fall.

Ein paar hundert Meter weiter steht eine Frau mit kurzen Haaren hinter einem Tisch und würde an Studenten wie Johanna Kolbusch gerne Geld verteilen. Aber niemand ist da, der es haben will. Die Frau steht im Kongresszentrum der Charité in einem kleinen Wald aus Stehtischen, Werbeaufstellern und Transparenten. Köche mit weißen Hauben servieren Quiche.

Der Kongress heißt „Operation Karriere“, auf drei Stockwerken werden Medizinstudenten hofiert und umschwärmt von künftigen Arbeitgebern: von Kliniken, von Pharmafirmen. Und von einem ganzen Bundesland.

Die Frau mit den kurzen Haaren vertritt die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg. Gemessen an seiner Einwohnerzahl hat Brandenburg die wenigsten Ärzte in Deutschland. Auf einen Arzt kommen 290 Menschen, fast doppelt so viele wie in Hamburg. 136 Arztsitze sind unbesetzt, manche Patienten warten Monate auf einen Termin. Es gibt in ganz Brandenburg keine Fakultät für Medizin, deshalb ködert die Frau die Berliner Studenten mit Geld. Wenigstens ein paar von ihnen sollen nach Brandenburg kommen. Wenigstens für ein Praktikum, wenigstens für ein paar Monate. 3500 Euro bietet sie jungen Uni-Absolventen für eine Weiterbildung zum Hausarzt. Im Monat. Trotzdem steht sie allein an ihrem Tisch.

Die Mediziner von morgen wollen Sicherheit - eine eigene Praxis wollen die wenigsten, schon gar nicht auf dem Land. Sie kennen die Klagen der Ärzte, die im Honorarstreit mit den Kassen im September drohten, ihre Praxen zu schließen. Das unternehmerische Risiko will kaum noch jemand tragen.

In den Räumen der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin sitzen zwei Männer vor einem weißen Flipchart, der eine trägt Jackett und Sommerschal, der andere eine Hornbrille. Sie sehen aus, als leiteten sie eine Werbeagentur, und in gewisser Weise machen sie auch Werbung. „Wir singen das Hohelied der Freiberuflichkeit“, sagt der mit der Hornbrille, er heißt Stefan Schreier. Er und sein Kollege beraten Ärzte bei ihrer Praxisgründung. Sie erläutern den Unterschied zwischen Zins, Tilgung und Abschreibung, geben Seminare in Qualitätssicherung, Controlling oder Personalmanagement. Die Kurse der beiden sind auf Monate ausgebucht.

Eine Praxis zu führen ist komplexer denn je, und dieser Schritt schreckt immer mehr ab. „Viele haben genug von der Knochenmühle in der Klinik und wollen sich niederlassen“, sagt Schreier. „Oft stellen die fest: Der Zeitaufwand für eine Praxis ist ähnlich hoch.“ Deshalb beraten die beiden immer mehr Ärzte, die eine Gemeinschaftspraxis gründen. Das Modell des alleine arbeitenden Arztes stirbt aus.

Es ist früher Nachmittag in Frutigen, der neuen Heimat von Hugo Stuhlfelder. Er zieht die Tür hinter sich zu und überquert den Parkplatz. Von hier aus hat Stuhlfelder freie Sicht auf das Kandertal, den Niesen und das Gehrihorn. Im Tal warten ein paar Hausbesuche, aber zuerst wartet seine Frau mit dem Essen. Er steigt in seinen schwarzen Wagen mit Allradantrieb und steuert ihn den Hang hinab. Auf der Wiese liegen zwei Kühe und wärmen sich aneinander. Es ist schön hier.

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