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Beschneidungsdebatte: Das Ritual

Sie können es nicht glauben: Beschneidung gilt jetzt plötzlich als Körperverletzung. Was soll das jüdische Ehepaar Rubin machen, wenn in fünf Monaten ihr Kind zur Welt kommt? Sie werden tun, was die Thora befiehlt – und dann vor Gericht gehen.

Zwischen seinen Spielsachen sitzt Samuel auf dem Fußboden und schreit. Er will nicht mehr spielen. Den großen grünen Hüpfball neben sich ignoriert er. Er will jetzt auf den Arm genommen werden.

Sein Vater steht nach kurzem Zögern vom Küchentisch auf und hebt den Kleinen vom Boden. Er wiegt den 15 Monate alten Samuel hin und her bis er aufhört zu schreien. Doron Rubin ist Jude. Seine kurzen schwarzen Haare sind am Hinterkopf von einer runden Kippa bedeckt. Samuel legt seinen Kopf an das hellblaue Hemd des Vaters und hört auf zu schreien.

„Es ist absurd“, sagt Doron Rubin, als er sich zu seiner Frau Hannah zurück an den Küchentisch in ihrer Berliner Wohnung setzt. „Wir sind von einer Straftat so weit entfernt, wie es nur geht.“

Und doch soll er für seinen Sohn vor etwas mehr als einem Jahr eine strafbare Körperverletzung angeordnet haben. So steht es in einem Urteil des Kölner Landgerichts. Denn Samuel ist nach jüdischer Tradition beschnitten.

Doron Rubin und seine Frau sind Juristen. Beide arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiter an verschiedenen Fakultäten. Wo, wollen sie nicht sagen. Es gebe schon genug rechte Spinner, die sie wegen ihrer Religion anfeindeten. Nach dem Urteil empfinden sie nun das Klima auch im Rest der Gesellschaft als rauer. Hannah Rubin deutet auf einen Stapel Zeitungen, der neben ihrem Mann auf dem Stuhl liegt. Auch die 28-Jährige ist gläubige Jüdin. Das bunt gemusterte Tuch, mit dem sie ihre Haare verdeckt, verrät, dass die alten Traditionen ihr wichtig sind. Doron Rubin blättert kurz in den Zeitungen. Er findet nicht, was er sucht. Aber einige Artikel, einige Kommentare sind ihm im Gedächtnis geblieben. Wenn seine religiöse Überzeugung „lächerlich“ und „überholt“ genannt wird, wenn von „Verstümmelung“ die Rede ist – das verletzt ihn. Das Urteil verletzt ihn.

Das Gericht bewertete die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen als „rechtswidrige Körperverletzung“. Hannah Rubin hat als Wissenschaftlerin gelernt, Dinge nüchtern zu betrachten. Es ist ja nur ein Landgericht, hat sie sich gesagt. „Wir sind davon ausgegangen, dass das nicht viel Rückhalt haben wird.“ Hatte es doch. Die Debatte über das Beschneidungsverbot nimmt von Tag zu Tag an Intensität zu. Trotzdem ist auch ihr Mann bemüht, nicht allzu emotional zu werden. Für ihn ist die Beschneidung ein Jahrtausende altes Ritual, Teil der jüdischen Identität.

In der Anklageschrift liest sich das anders: „Die Staatsanwaltschaft Köln wirft dem Angeklagten vor, am 04.11.2010 in Köln eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben.“ Sie hatte bereits im November 2010 gegen einen muslimischen Arzt geklagt, der auf Wunsch der Eltern deren vierjährigen Sohn beschnitten hatte, denn auch in der islamischen Tradition ist die Beschneidung weit verbreitet.

Zwei Tage nach dem Eingriff brachte die Mutter ihr Kind mit Nachblutungen in die Notaufnahme der Uniklinik. In erster Instanz sprach das Amtsgericht den Arzt noch frei, weil die Eltern das Einverständnis gegeben hatten. Doch als Berufungsgericht urteilte das Kölner Landgericht nun, die Einwilligung sei nicht wirksam, weil sie nicht dem Kindeswohl diene.

"Wir wollen nur das beste für unser Kind."

Nicht dem Kindeswohl. Hannah Rubin schüttelt nur den Kopf. Mit einer Hand streicht sie über ihren Bauch. Sie ist wieder schwanger. Im vierten Monat. Noch wissen die beiden Eltern nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Doch eines wissen sie bestimmt: Wenn es ein Junge wird, dann wird er beschnitten. „Wir wollen das Beste für unser Kind“, sagt Doron Rubin. Er kann verstehen, dass es für Menschen, die nicht in der jüdischen Tradition stehen, archaisch wirkt, wenn da unten einfach etwas weggeschnitten wird. „Aber wir Juden glauben, die Welt ist nicht perfekt.“ Sie glauben, dass der Mensch verbessert wird, wenn man die Vorhaut abschneidet.

Längst nicht für jeden ist diese Ansicht nachvollziehbar. Rubin probiert es deshalb mit einer Geschichte aus dem Talmud, einem der wichtigsten Schriftwerke des Judentums, das Anleitungen für die Auslegung jüdischer Gesetze geben soll. Darin wird ein Rabbiner von den Römern gefragt, was nun besser sei: das Werk des Menschen oder das Werk Gottes. Der Rabbiner, der bemerkt, dass die Römer auf die Beschneidung anspielen, erzählt Rubin, nimmt in die eine Hand drei Weizenkörner und in die andere ein Brot. „Was ist besser?“, soll er zurückgefragt haben.

„Die Debatte ist nicht neu“, sagt Hannah Rubin. Immer wieder hätten die verschiedensten Herrscher über die Jahrhunderte versucht, die Beschneidung zu verbieten und jüdisches Leben damit unmöglich zu machen. So begreift sie es noch immer. Als Angriff auf jüdische Identität. Sie steht vom Küchentisch auf und geht zum Bücherregal. Auf Augenhöhe steht die Thora. Sie zieht sie aus dem Regal und setzt sich wieder. Nur kurz muss sie in der heiligen Schrift suchen, bis sie die richtige Stelle gefunden hat

Sie blättert von rechts nach links. Das Buch ist zweisprachig, Deutsch-Hebräisch. Ganz am Anfang findet sie die Stelle, die für sie so wichtig ist. Bereschit, Kapitel 17, Absatz 10. Es entspricht der alttestamentlichen Genesis, dem 1. Buch Mose: „Alles, was männlich ist, soll bei euch beschnitten werden. Und zwar sollt ihr am Fleisch eurer Vorhaut beschnitten werden! Das wird das Zeichen des Bundes sein zwischen mir und euch“, steht da. Und etwas weiter unten: „Der am Fleisch seiner Vorhaut nicht beschnitten ist, diese Seele soll ausgerottet werden aus ihrem Volk.“

Urteil: "Wir wollen euch hier nicht haben"

Hannah Rubin klappt die Thora wieder zu. Die Passage ist für sie eine der Grundfesten ihrer Religion. Dass ein Gericht das nun unter Strafe gestellt hat, bestürzt sie. „Das Urteil sendet die Botschaft: ‚Wir wollen euch hier nicht haben’“, findet sie. Dabei ist sie selbst gar keine gebürtige Jüdin. Sie konvertierte, lange bevor Samuel geboren wurde, bevor sie Doron geheiratet hat. Heute bezeichnet sie sich selbst als jüdisch-orthodox. Das kann bei all den verschiedenen Strömungen der Religion viel bedeuten. Äußerlich sieht man es ihnen nicht unbedingt an, dass sie ihren Glauben streng auslegen. Keine charakteristischen Schläfenlocken bei Doron Rubin, kein Vollbart. „Orthodox heißt für uns einfach, dass wir versuchen, uns an die Gebote zu halten“, sagt sie. Koscheres Essen, Milch und Fleischprodukte getrennt, den Schabbat, den jüdischen Feiertag, heiligen und ja, eben die Beschneidung. Diese Tradition ihrer neuen Religion wollte sie auch an ihren Sohn weitergeben.

Acht Tage nach seiner Geburt, so will es die heilige Schrift, versammelten sie sich im Gebetsraum des Yeschurun-Minjans in der jüdischen Schule in der Rykestraße. Hannah war da noch etwas geschwächt von der Geburt. Ein Sonntag sei es gewesen, erinnert sie sich. Rund 100 Gäste waren es wohl, als auch an Samuel die Brit Mila vollzogen wird, die Beschneidung aus religiösen Gründen. Es werden Segenssprüche verlesen, mit einem Skalpell wird die Vorhaut des Säuglings abgetrennt. Ganz so wie vor 30 Jahren einst bei Papa Doron und zuvor bei dessen Vater. Auch der war über das Urteil schockiert. „Meine Eltern sind nicht einmal besonders religiös“, sagt Doron Rubin. Genau wie er leben sie in Deutschland. Bräuche und Traditionen nehmen sie nicht so ernst wie er. „Trotzdem begreifen sie das Judentum als Teil ihrer Persönlichkeit.“ Die Beschneidung sei für Juden, egal wie religiös, Bestandteil der Identität.

In der Jüdischen Gemeinde in Berlin, wo das Ehepaar Rubin regelmäßig in die Yeschurun-Minjan-Synagoge geht, gibt es deshalb nach dem Urteil gar keine Diskussion darüber, ob weiter beschnitten werden soll. Dort diskutiert man das Wie. Inzwischen sind im Berliner Rabbinat Einladungen von jüdischen Gemeinden in Polen angekommen. Sie bieten werdenden Eltern an, die Beschneidung dort vornehmen zu lassen. Polen ist nah. Aber es ist nicht ihre Heimat.

Es wird schwieriger fachkundige Ärzte zu finden

Von nicht-jüdischen Bekannten hört Hannah Rubin manchmal nur „die armen Kinder“, wenn sie etwa von dem Dilemma mit der Beschneidung erzählt. Die Deutsche Kinderhilfe drückt es in einer Stellungnahme noch dramatischer aus und verweist auf Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention, die auch Deutschland ratifiziert hat. Er schreibt fest, „überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“.

Samuel aber ist gesund, finden seine Eltern. Er sitzt auf Papas Schoß und wirft den Deckel einer Wasserflasche durch den Raum, den er vorher unter Aufwendung all seiner Kraft mühsam abgeschraubt hatte. „Wir haben extra einen Mohel ausgesucht, der weiß, was er tut“, sagt seine Mutter. Ein Mohel ist der hebräische Name für einen Beschneider. Andere Eltern hatten ihn empfohlen. Zur Vorbereitung wohnten sie sogar einer Brit Mila bei, die von ebendiesem Beschneider durchgeführt wurde und der extra aus der Schweiz angereist war. Alles ging gut. Anders als beim vierjährigen muslimischen Jungen, dessen Beschneidung das jüngste Urteil ausgelöst hatte, gab es keine Komplikationen.

Für die 28-jährige Mutter ist die Beschneidung daher in etwa so schlimm wie ein Ohrloch zu stechen. „Allein die Impfungen, die wir Samuel zugemutet haben“, sagt sie weiter, darauf habe er viel stärker reagiert als auf die Beschneidung.

Um Samuel brauchen sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Doch ihr ungeborenes Kind, wird wohl in eine für die kleine Familie schwierige Zeit geboren. Es wird nun nicht leicht sein, Ärzte zu finden, die die Operation fachkundig vornehmen. Zwar wurde der angeklagte Arzt vom Kölner Landgericht freigesprochen, aber nur deshalb, weil er sich in einem sogenannten Verbotsirrtum befunden hatte. Da die Rechtslage unklar war, konnte er auch nicht wissen, dass es Unrecht war.

Auf diese Unwissenheit können sich nach der breiten gesellschaftlichen Diskussion des Urteils die Ärzte nun nicht mehr berufen. Zwar ist das Urteil des Landgerichts für andere Verfahren nicht bindend, doch aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen haben bereits zahlreiche Krankenhäuser die religiös motivierte Beschneidung abgelehnt. Darunter auch das Jüdische Krankenhaus im Berliner Stadtteil Wedding. Allein in der Hauptstadt werden jährlich mehr als 1300 Jungen aus religiösen Gründen beschnitten, vor allem in muslimischen Familien. Nur 150 von ihnen sind nach Schätzungen der Berliner Ärztekammer wie Samuel jüdisch. Die Ärztekammer Berlin fürchtet nun, dass viele Eltern ihre Söhne trotzdem beschneiden lassen. Jedoch nicht von Ärzten, sondern von Laien.

Klagen - Bis vors Verfassungsgericht

Auch deshalb macht Doron Rubin das Urteil des Kölner Gerichts so wütend. Er läuft mit Samuel im Arm aufgeregt in der Wohnung im dritten Stock in Berlins Mitte auf und ab und schimpft: „Man tut gerade so, als wären wir zu dämlich zu wissen, was wir machen, und müssten belehrt werden.“ Das sei seine persönliche Empfindung, erklärt er. Fachlich meint er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der juristischen Fakultät, für die er arbeitet, schon länger eine Tendenz zur „Antireligiosität“ ausgemacht zu haben. „Religion wird von der Justiz als etwas Veraltetes wahrgenommen.“

Doch so einfach ist es nicht. Das folgenreiche Urteil des Kölner Landgerichts mit dem Aktenzeichen 151 Ns 169/11 hat in seiner Urteilsbegründung verschiedene Grundrechte gegeneinander abwägen müssen. Zuallererst Artikel 2 mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes. Im Widerspruch zu Artikel 4, der die Freiheit des Glaubens als unverletzlich festschreibt. Und schließlich Artikel 6, der die Erziehung der Kinder als natürliches Recht der Eltern beschreibt. Am Ende war für das Gericht die Unversehrtheit des Kindes das Ausschlaggebende.

„Solche grundlegenden Fragen zu entscheiden ist nicht Sache eines Landgerichts“, sagt Doron Rubin. Zusammen mit seiner Frau hat er am heimischen Küchentisch schon mehrere Szenarien durchgespielt, wie man rechtlich gegen das Urteil vorgehen könnte. In fünf Monaten, wenn dann vielleicht ihr zweiter Sohn auf der Welt ist, wollen sie nicht heimlich zu einem Laien gehen und die Gesundheit des Kindes aufs Spiel setzen. Und auch nicht nach Polen. Doron und Hannah Rubin wollen die Brit Mila in Deutschland machen lassen. „Und dann klagen – bis vors Verfassungsgericht“, sagt Hannah Rubin selbstsicher. „Wenn das Verfassungsgericht dann ebenfalls gegen die Beschneidung urteilt, weiß ich nicht, ob ich hier in diesem Land weiterleben möchte.“ Aber Familie Rubin möchte bleiben. Und Samuel quengelt wieder. Er möchte wieder runtergelassen werden. Weiterspielen.

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