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Beweislast: Bin Ladens Tod: Der Druck auf die USA wächst

Fakten werden korrigiert, Fotos der Leiche sollen nicht gezeigt werden: Im Fall bin Laden wächst der Druck auf die USA. Wie geht die Regierung Obama damit um?

Drei Tage nach der US-Militäroperation gegen den Terroristenchef Osama bin Laden in Pakistan hat das Weiße Haus die Darstellung der Abläufe in entscheidenden Punkten korrigiert. Am Dienstagabend deutscher Zeit sagte Präsidentensprecher Jay Carney, bin Laden sei nicht bewaffnet gewesen, als er erschossen wurde. In ersten Berichten, die zum Beispiel Präsident Obamas Anti-Terror-Berater John Brennan am Montag gab, hatte es anders geklungen: Der Al-Qaida-Chef sei im Lauf eines Feuergefechts getötet worden, er habe eine Waffe gehabt, und es sei nur unklar, ob er selber Schüsse abgefeuert habe oder nicht. Carney korrigierte auch Brennans Behauptung, bin Laden habe sich hinter einer Frau versteckt, die ihm als menschlicher Schutzschild diente – entweder freiwillig, um ihn vor dem Tod zu bewahren, oder gezwungenermaßen.

Wie zuverlässig sind die Informationen über den Ablauf des Zugriffs?

Bei allen Schilderungen und Korrekturen muss man zwei Dinge im Auge behalten. Erstens stammen alle bisherigen Informationen, die auf Berichten von Augenzeugen oder Bildern von dem Geschehen beruhen, aus offiziellen amerikanischen Quellen. Es gibt keine Darstellung eines unbeteiligten – und damit unparteiischen – Beobachters. Ebenso wenig gibt es bisher eine öffentlich zugängliche Schilderung der Gegenseite. Mehrere Personen, die mit bin Laden in dem Gebäude wohnten, haben zwar überlebt, können aber derzeit nicht von unabhängigen Instanzen befragt werden. Und auch, wenn sie eines Tages ihre Darstellung geben, sind sie Partei.

Das bedeutet, zweitens: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man nicht sagen, ob die offizielle Darstellung der Wahrheit entspricht. Freilich kann derzeit auch niemand die USA zwingen, sich zu korrigieren. Soweit sie das tun, tun sie es aus eigenem Antrieb. Es wirkt so, als bemühe sich die Regierung Obama um eine Schilderung, die den tatsächlichen Abläufen entspricht. Es würde einen hohen Schaden für ihre Glaubwürdigkeit und ihr Ansehen bedeuten, wenn später Informationen ans Licht kommen, die sie der Lüge überführen. Vermutlich korrigiert sie deshalb Details, die sich als falsch herausstellen, auch wenn dies zunächst den ungünstigen Eindruck verstärkt, sie mache widersprüchliche Angaben.

Wie kam es zu den Widersprüchen?

US-Medien erklären die Korrekturen mit dem enormen Druck auf die Regierung in einer modernen Fernseh- und Internetgesellschaft, rasch Informationen zu einem so wichtigen Ereignis herauszugeben. Die „New York Times“ schreibt, die Medien setzen „das Weiße Haus unter Druck, eine dramatische Story über eine erfolgreiche Aktion zu erzählen“. Während Anti-Terror-Berater Brennan am Montag sprach, waren andere Mitarbeiter dabei, die vorhandenen Informationen überhaupt erst auszuwerten und Details gegenüber Reportern klarzustellen.

Nach dem Stand vom Mittwoch kam es zu den hartnäckigen Feuergefechten, als die Elitesoldaten, deren Zahl jetzt mit 24 angegeben wird, in das Haus eindrangen und sich den Weg durch die unteren beiden Stockwerke zum dritten Geschoss freikämpften. Dort hielt sich Osama bin Laden auf. Die Episode mit einer Frau, die sich in den Weg stellte, um bin Ladens bewaffnete Begleiter zu schützen, spielte sich demnach im ersten Obergeschoss ab. Bei ihr handele es sich um die Ehefrau des sogenannten „Kuriers“, der der offizielle Bewohner des Hauses war. Sie wurde erschossen.

Zusammen mit bin Laden im obersten Stockwerk war nach der neuen Darstellung seine eigene Frau. Sie habe einen Soldaten angegriffen, wurde ins Bein geschossen und habe überlebt. Bin Laden erlitt mindestens drei Schussverletzungen, zwei in den Kopf und eine in die Brust. Er sei unbewaffnet gewesen, sagte Präsidentensprecher Carney, habe sich aber „gewehrt“. Man habe ihn deshalb nicht lebend festnehmen können.

Was bedeutet die neue Darstellung, dass bin Laden unbewaffnet war, für die rechtliche Bewertung?

CIA-Chef Panetta sagt, die Vorgabe für den Einsatz sei gewesen, Osama bin Laden gefangen zu nehmen, „wenn er seine Hände erhoben und sich ergeben hätte und nach allem Anschein in keiner Weise eine Gefahr für das Einsatzteam gewesen wäre“. Es habe aber „kaum Zeit gegeben, in der er überhaupt etwas von sich geben konnte“. Als die Elitekämpfer den dritten Stock erreichten, „kam es zu mehreren bedrohlichen Aktionen … das war der Grund, warum die Soldaten schossen“. Ein weiterer hochrangiger Regierungsvertreter, dessen Namen die Medien nicht nennen, weil er sich in einem Hintergrundgespräch äußerte, sagt: „Er lag nicht auf dem Boden und versuchte, sich zu ergeben. Er hat Widerstand geleistet.“

John Bellinger, der völkerrechtliche Berater des Nationalen Sicherheitsrats unter der Regierung Bush, analysiert: Falls sich herausstellen sollte, dass bin Laden „versucht hat, sich zu ergeben oder niedergeschlagen wurde und bewusstlos am Boden lag“, als er erschossen wurde, „dann stellen sich ernste Fragen“. Man wusste, dass er „ein extrem gefährlicher Mann ist. Wenn er Gesten zu seinen Leuten machte, die sich als Aufforderung zu einer Aktion interpretieren lassen, oder man befürchten musste, dass er eine Selbstmordweste mit Sprengstoff trug, gab es gute Gründe, ihn zu erschießen.“

Experten für solche Spezialeinsätze verweisen auf die Einsatzbedingungen. Es war dunkel, es gab allenfalls Dämmerlicht, die Soldaten hatten durch die Nachtsichtgeräte eine eingeschränkte Wahrnehmung und mussten in Bruchteilen einer Sekunde Entscheidungen über Tod oder Leben treffen. Das oberste Gebot sei da, jede Gefahr für die eigenen Leute auszuschließen.

Welche Fotos oder Videos gibt es – und warum werden sie nicht veröffentlicht?

Aus den bisherigen Darstellungen ergibt sich, dass die USA Videoaufnahmen von der Operation und auch Fotos von bin Ladens Leiche besitzen. Brennan und Carney hatten bereits am Montag gesagt, der Präsident und sein Sicherheitsteam hätten den Ablauf „in real time“, also live, über eine sichere Verbindung im Lagezentrum des Weißen Hauses verfolgen können. Vermutlich waren die Helme der Soldaten mit Videokameras ausgerüstet. Im Weißen Haus habe man auch Wortwechsel mithören können. Es sei freilich schwierig, den Überblick zu behalten, was da gleichzeitig an verschiedenen Orten in dem Haus geschah.

Das Weiße Haus hat in den Pressebriefings bestätigt, dass es Fotos von bin Ladens Leiche besitzt. Es zögerte aber zunächst mit einer Antwort auf die Frage, ob und wann es sie veröffentlichen werde – als Beweis für seinen Tod. Am Mittwochabend dann das deutliche Nein der Regierung. Für diese Zurückhaltung wurden schon zuvor vor allem zwei Gründe angegeben. Erstens die Rücksicht auf die Gefühle der Muslime. Bin Ladens Kopf sei durch zwei Schussverletzungen entstellt. Man wolle niemanden durch solche Fotos provozieren. Im Moment habe diese Überlegung Vorrang vor dem Wunsch, Verschwörungstheorien vorzubeugen, bin Laden sei gar nicht tot.

Der zweite Grund: Videos und Fotos vom Zugriff enthalten eine Menge zusätzlicher Informationen, die Rückschlüsse auf die Abläufe und die Einsatztaktik zulassen. Die USA wollen nichts preisgeben, was eine Wiederholung einer solchen Operation gegen andere Topterroristen gefährden könnte.

Hat bin Laden ein Testament hinterlassen?

Nicht nur in den USA, sondern auch anderswo führt bin Ladens Tod zu einer Flut von Nachrichten, deren Wahrheitsgehalt sich nicht auf Anhieb überprüfen lässt. Eine kuwaitische Zeitung veröffentlicht ein angebliches Testament von ihm aus dem Jahr 2001. Darin entschuldige er sich bei seinen Kindern dafür, dass er so wenig Zeit für sie gehabt habe, und bitte sie, sich nicht dem Terrornetzwerk Al Qaida anzuschließen.

Die Internetplattform Wikileaks behauptet, sie sei der Auslöser des Zugriffs auf bin Laden gewesen. Denn wichtige Informationen, die zu der Spur gehörten, die zu seinem Versteck in Pakistan führten, seien in einzelnen der rund 250 000 US-Diplomatenberichten erwähnt worden, die Wikileaks im November 2010 veröffentlichte. Die USA hätten befürchten müssen, dass bin Laden sich gewarnt fühlte, und deshalb jetzt zugegriffen. Auch dies ist bisher nur eine Spekulation.

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