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Politik: Beziehungsprobleme

Nach der Verschiebung der Strafrechtsreform ist Ankaras Premier Erdogan innenpolitisch angeschlagen

Deniz Baykal hat lange auf diesen Tag warten müssen. In den vergangenen zwei Jahren musste der türkische Oppositionsführer damit leben, dass die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zumindest in der Europapolitik alles richtig machte. Nun erhielten Baykals Sozialdemokraten von Erdogan selbst eine Steilvorlage: Die plötzliche Abkehr des Regierungschefs von einer für die türkische EU-Bewerbung wichtigen Strafrechtsreform und sein Eintreten für die Bestrafung von Ehebrechern haben eine neue Krise in den türkisch-europäischen Beziehungen heraufbeschworen. Baykal forderte deshalb am Dienstag eine weitere Sondersitzung des Parlaments zur Verabschiedung der Strafrechtsreform noch vor dem nächsten Bericht der EU-Kommission zur Türkei am 6. Oktober. Erdogan reist an diesem Mittwoch nach Brüssel, um den von ihm selbst angerichteten Schaden zu begrenzen. Erdogan solle „Vernunft annehmen“, forderte Baykal. Die Regierungspartei AKP hatte die Reform vergangene Woche in letzter Minute gestoppt, weil ihr religiöser Flügel die Bestrafung von Ehebrechern verlangte. Das sei „Öl in das Feuer“ der Gegner einer türkischen EU-Mitgliedschaft gewesen, kritisierte Baykal.

Presseberichten zufolge peilt die Erdogan-Partei an, die Strafrechtsreform unmittelbar nach dem turnusgemäßen Zusammentreten des Parlaments am 1. Oktober zu verabschieden – fünf Tage vor dem EU-Bericht, der als Vorentscheidung über die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen gilt. Klarheit über den Kurs der Regierungspartei wird es aber erst nach Erdogans Gesprächen mit EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen am Donnerstag in Brüssel geben.

Eine türkische Zeitung meldete, die neue türkisch-europäische Krise gehe auf eine Fehleinschätzung Erdogans zurück. Der Ministerpräsident habe bei Verheugens kürzlichem Besuch in Ankara den Eindruck gewonnen, dass die EU die geplante Ehebruchinitiative als Lappalie betrachte und sei dann von der heftigen Kritik aus Brüssel überrascht worden. Derzeit ist noch nicht klar, wie Erdogan die EU-Kommission davon überzeugen will, dass die Türkei trotzdem gute Noten verdient hat.

Erdogans Verhalten hat auch die AKP in Aufruhr versetzt, die sonst größten Wert auf Geschlossenheit legt. Im Kabinett gibt es nach Presseberichten mindestens zwei Minister, die mit der Position des Ministerpräsidenten nicht einverstanden sind. Erdogan wirkt plötzlich angeschlagen.

Erstmals äußerte sich am Dienstag auch EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Durao Barroso zur aktuellen Krise: „Die Türkei hat große Fortschritte gemacht, und das erkennen wir an“, sagte er in einem Interview mit „Le Monde“. Gegenwärtig seien jedoch noch nicht alle Kriterien für Beitrittsgespräche erfüllt. Der frühere portugiesische Ministerpräsident, räumte ein, dass er persönlich einen EU-Beitritt der Türkei befürworte. Damit setzte sich der konservative Politiker auch von CDU-Chefin Angela Merkel ab, die sich in einem Brief an die konservative Familie in Europa gegen die Aufnahme von Verhandlungen mit Ankara ausgesprochen hatte. Barroso gehörte zu den Empfängern ihres Briefes.

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