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Politik: Bis zur großen Apo

Von Stephan-Andreas Casdorff

Versuchen wir es mit einem Bild, um das Ganze zu veranschaulichen. Man stelle sich ein Blatt Papier vor. Dieses Papier, auf dem etwas notiert werden soll, etwas Offizielles wie ein Programm, weist am rechten Rand eine Ausfransung auf. Mit einer Schere lässt sich das vielleicht begradigen. Unglücklicherweise gelingt das aber nicht. Also noch einmal, und noch einmal; am Ende ist das Papier zwar gerade abgeschnitten – doch um die Hälfte schmaler. Und das ist das Bild für die Politik dieser Tage.

Angetreten ist diese Regierung, ist die Kanzlerin mit der Ankündigung, mehr Freiheit zu wagen. Manche haben das als Versprechen von Angela Merkel verstanden, auch als ihr politisches Credo, das sie in ihrem Zwangsbündnis nach der Wahl dennoch durchsetzen will. Immerhin hatte die Kanzlerin in der ersten Regierungserklärung auch von den zweiten Gründerjahren gesprochen, die anbrechen sollten. Wohlfeile Worte. Die Taten sprechen eine andere Sprache. Einmal die großen, an drei Beispielen, immer wieder: die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Republik, die sich noch im Soll auswirken wird; die große Gesundheitsreform, die von (Koalitions-)Experten als Murks und von Altvorderen wie Helmut Schmidt als unnötig bezeichnet wird; das große Gleichstellungsgesetz.

Die Unruhe in den Fraktionen, in der Regierung wie in der Opposition, findet fast jeden Tag neue Ursachen. Symptomatisch für das Denken, das sich in der CDU ausbreitet, war weniger Friedrich Merz’ Abschied von der Politik als jener Satz einer Bundestagsabgeordneten, sie wolle nicht, dass das Gesundheitswesen der DDR zurückkehre. Dahinter steht eine befürchtete Einschränkung der Freiheit, wie sie die christdemokratische Partei bisher verstand. Und das Gefühl, hier schleiche sich eine Art Sozialismus durch die Hintertür ins bürgerliche Lager. Das wird inzwischen offen ausgesprochen, nicht nur von Bischöfen und auch in Erinnerung an den Slogan „Freiheit statt Sozialismus“.

In der Union als der Parteigängerin des Bürgerlichen und seiner Rechte wird ein Konflikt dann richtig aufbrechen, wenn sie erkennt, dass diese Politik von ihr, dem konservativen Partner, erst protegiert wird; dieses Handeln mit einer Vielzahl von staatlichen Geboten und Verboten, die inzwischen sogar bis hin zum Rauchen im Auto reichen, das unterbunden werden soll. Freiheit, die die Union immer meinte, sieht anders aus; aus ihrer Sicht ist restaurativ, was gegenwärtig geschieht, aber im gänzlich falschen Sinne. Das hat die Abgeordnete mit ihrem Angriff auf die Gesundheitsreform ausgedrückt – und Merkel, so sagen es Beobachter, verdrückte deswegen in der Fraktion Tränen. Weil sie verstanden hatte?

Nach den Beobachtungen der vergangenen Monate läuft diese große Koalition Gefahr, der Egalisierung zu erliegen. Womit nicht gesagt sein soll, dass die Politik in Gänze die Freiheitsrechte des Einzelnen trifft (bis auf das Recht der informationellen Selbstbestimmung), wohl aber die Freiheitsgefühle vieler ihrer Anhänger, einer strukturellen Mehrheit in der Gesellschaft. Wenn sich nun aber erst einmal der Eindruck verbreitet – rechts wie links, polit-geografisch ausgedrückt –, dass weniger möglich ist, dass Freiheit und der Pursuit of Happiness eingeschränkt sind, dieser demokratisch-aufgeklärte Grundanspruch, wird in diesem Spektrum Wut wachsen. Es werden sich Kräfte sammeln, links wie rechts, die sich Freiheitsräume neu eröffnen wollen.

Darin liegt die Gefahr, wie sie wohl nur unter einer großen Koalition entstehen kann, in der die Partner einander so ähnlich wirken: dass sich eine neue außerparlamentarische Opposition bildet. Eine von den Rändern herkommend, aber in die Mitte der Gesellschaft ragend, mitten hinein ins frustrierte Bürgertum, das sich zunehmend gegängelt fühlt und geringer gewürdigt. Das allerdings würde dann eine Apo von noch anderem Kaliber als während der ersten großen Koalition dieser Republik. Allzu viel fehlt nicht mehr bis zu diesem Punkt. Vielleicht fehlen nur noch die Anführer.

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