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Entwicklungsminister Dirk Niebel bei dem Besuch in einer Favela in Rio: "Cantagalo" ist das älteste Armenviertel der Millionenstadt.

© DAPD

Brasilien Tagebuch: Armenviertel, die nicht arm aussehen

Tagesspiegel-Politikredakteurin Dagmar Dehmer ist in Brasilien unterwegs. In Folge fünf ihres Online-Tagebuchs berichtet sie über einen Entwicklungsminister, der zu spät kommt, eine Atomenergiebehörde, die beweisen möchte, dass Radioaktivität etwas Gutes ist und einen Bundesumweltminister, der im Stau stecken bleibt.

Der Gipfel Rio +20 hat viele Schauplätze. Die Staats- und Regierungschefs sitzen 40 Kilometer vom Zentrum der Stadt entfernt in einem Kongresszentrum. Drinnen verliert sich jedes Gefühl für die Tageszeit. Das kann einem im Fortress Copacapana nicht passieren. Die Sperrholzbretterburg ist nur für den Gipfel am Strand aufgebaut worden. Davor bilden sich Schlangen hunderte Meter lang. Hier hat die Regierung ihre Bürger eingeladen über die Zukunft zu diskutieren, außerdem finden viele Veranstaltungen von Bürgermeistern, Think-Tanks oder anderen Nicht-Regierungsorganisationen hier statt. Als Marina Silva, die frühere Umweltministerin und überraschend knapp gegen die amtierende Präsidentin Dilma Roussef unterlegene Präsidentschaftskandidatin der brasilianischen Grünen, das Gelände verlässt, gibt es spontanen Szenenapplaus. Eine Besonderheit des Rio-Gipfels ist seine Behindertenfreundlichkeit. Alle Veranstaltungen mit Regierungsbeteiligung werden auch von einem Gehörlosendolmetscher übersetzt. Wenn eine Veranstaltung oder Rede gar zu langweilig wird, wandert der Blick unwillkürlich zu den Gebärdendolmetschern, die auch noch die schlechteste Rede elegant umsetzen. Ganz im Gegensatz zur brasilianischen Verhandlungsführung, für die es nur ein Wort gibt: brachial.

Wer zu spät kommt

Am späten Dienstagabend ist Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) in Rio aufgeschlagen. Zu spät, wie er feststellen musste. Sein Delegationsleiter Peter Altmaier (CDU) hatte den ganzen Spaß, und Niebel kann jetzt nur noch zugucken. Altmaier hatte von Montag auf Dienstag eine dramatische Verhandlungsnacht hinter sich gebracht. Da war Niebel noch nicht mal in den Flieger gestiegen. Da es nichts mehr zu verhandeln gab, hat Niebel am Mittwoch das nahe liegende getan: Er besuchte eine Favela, ein Armenviertel am Hang. Angesichts der aberwitzigen Grundstückspreise in Rio setzt in einigen Favelas aber inzwischen ein Gentrifizierungsprozess ein. Die Mittelschicht kauft sich Häuschen in den Favelas, weil sie sich die besseren Viertel in den Niederungen Rios einfach nicht mehr leisten können. Die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 haben die Grundstückspreise derart hoch getrieben, dass selbst die besser Verdienenden sich schwer tun, ihre Mieten oder Kreditraten noch aufzubringen. Niebel soll etwas enttäuscht gewesen sein, dass das Armenviertel gar nicht so arm aussah, hieß es nach seiner Rückkehr. Am Abend trat er dann erstmals mit Altmaier zusammen auf, der ihn prompt in den Schatten stellte. Niebel klatschte leicht gequält.

Die Untoten

Der deutsche Atomausstieg hat die internationale Kernenergiebranche, noch mehr aber ihre institutionellen Förderer kalt erwischt. In Rio hat die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO), die sich mit der Werbung für die Nuklearenergie gerade etwas schwer tut, als Schlüsselinstitution für eine nachhaltige Entwicklung präsentiert. Abends um fünf haben sich etwa 30 Interessierte in einen Saal für 1000 Menschen verirrt. Das stört den Chef der Atomabteilung bei der Organisation für Wirtschaft und Zusammenarbeit (OECD) aber überhaupt nicht. Ron Cameron hält unberührt seinen alten Werbevortrag aus der Zeit vor Fukushima. Darin werden viele neue Atomkraftwerke gebaut und der Anteil der Kernenergie am Strom – aktuell 14 Prozent – soll bis 2050 auf 24 Prozent gestiegen sein. Fukushima werde diese Pläne allenfalls ein paar Monate oder Jahre verzögern, sagt Cameron. Denn der Energiebedarf sei gewaltig. „Der größte Schaden, den der Unfall in Fukushima verursacht hat, ist der Verlust des Vertrauens der Öffentlichkeit.“ Der Mann ist nahe der Pensionsgrenze und wird sich wohl nicht mehr ändern. Die IAEO dagegen versucht zu beweisen, dass Radioaktivität etwas Gutes ist, und für eine nachhaltige Entwicklung geradezu unentbehrlich. Michel Warnau hat einen nicht enden wollenden Powerpoint-Vortrag über die Segnungen der Radioaktivität gehalten. Die Bestrahlung von Samenkörnern beschleunige die Mutation und so könnten schneller trocken- oder salzresistente Arten gezüchtet werden. Mit radioaktiven Messmethoden bestimmt die IAEO Verschmutzungswerte im Meer. Außerdem spürt sie so Trinkwasserquellen auf, damit sie kartiert werden können. Und außerdem hat die IAEO eine Lösung für das Problem der Lebensmittelabfälle. Durch radioaktive Bestrahlung „kann das Haltbarkeitsdatum verlängert werden“. Durch Radioaktivität können auch böse Insekten wie Tse-Tse-Fliegen steril gemacht und damit ausgerottet werden, argumentiert Warnau, der sich nicht weiter über die Auswirkungen der Strategie auf die betreffenden Ökosysteme auslässt. Die IAEO erobert neue Geschäftsfelder, die hat sie wohl nötig.

Ausnahmsweise verstopfen nicht nur Autos die Straßen in Rio: Während die Politiker tagten, demonstrierten Gewerkschafter, Landlose, Frauenrechtlerinnen und Umweltschützer in der Innenstadt.
Ausnahmsweise verstopfen nicht nur Autos die Straßen in Rio: Während die Politiker tagten, demonstrierten Gewerkschafter, Landlose, Frauenrechtlerinnen und Umweltschützer in der Innenstadt.

© EPD

Die Staureporterinnen

Deutsche Lokalzeitungen berichten über Verkehrsunfälle, brasilianische Lokalsender über Staus. Jeden Morgen zeigen die Sender in Rio exklusive Bilder aus dem Hubschrauber oder aus fest installierten Kameras Autos, die im Schritttempo dahinschleichen oder ganz stehen. Davor stets eine hübsche junge Frau mit leichtem Wind im Haar und einem Mikrofon, die mit ausladenden Handbewegungen auf den Verkehr zeigt und Schätzungen verbreitet, wie lang man dort wohl stehen muss. Peter Altmaier, der neue Umweltminister, ist ziemlich beeindruckt von der Autowalze, die sich da morgens und abends durch die Stadt quält. „Die Städte müssen den Nahverkehr ausbauen“, sagt er. „Was da an Abgasen und Kohlendioxid in die Luft geht!“ Altmaier ist eine Very Important Person, (VIP). Das steht auf seinem Namensschild. Aber die gut zwei Stunden zum Kongresszentrum kann er auch mit Polizeibegleitung nicht verkürzen. Jeder, egal woher er kommt, muss morgens erst einmal seine stets gleich lautende Geschichte erzählen: Es hat ewig gedauert, bis wir hier waren.

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